Jakob Schubert bei Project Big.
Jakob Schubert bei Project Big.
Moritz Klee/Nodum Sports

Bei seinem größten Projekt wird Jakob Schubert ganz klein. Der Tiroler sitzt vergangenen Mittwochnachmittag in einem Winkel der Hanshelleren-Höhle, dieser gezackten Felslücke, die aussieht, als hätte ein urzeitlicher Riese eine hunderte Meter breite Axt in einen Berg aus norwegischem Granit geschlagen. Geblieben ist ein fast waagrechter Spalt, den Kletterer zur Kathedrale erhoben haben. Hier kletterte Adam Ondra "Silence", die erste Route des Grades 9c, hier gibt es eine einmalige Dichte an extrem schwierigen Routen.

Schubert hat eine Mission: Project Big. Vielleicht die schwierigste Kletterroute der Welt. Ondra hat sie vor zehn Jahren eingerichtet, sich aber lange selbst nicht getraut, diese Monstrosität ernsthaft zu versuchen. Mit 85 Zügen und einer erbarmungslos schwierigen Schlüsselstelle ist Project Big ein Koloss, von dem niemand weiß, ob er bezwingbar ist.

Pulli weg, Haube auf, Arme ausschütteln. Schubert beginnt. Es ist im Rahmen dieser Reise sein sechster ernsthafter Versuch, die ersten fünf Tage des Einfindens nicht mitgerechnet. Vergangenes Jahr verbrachte er mit Ondra mehrere Wochen bei Project Big, am Ende schien der Durchstieg greifbar, doch das Wetter verhinderte letzte Versuche. Auch an diesem Septembermittwoch schien der strömende Regen ein Problem zu sein, Schubert rechnete am Vormittag selbst nicht damit, dass die Bedingungen für einen Versuch reichen könnten. Auf nassen Griffen kann auch der Klettergott nichts ausrichten. Trotzdem ist er auf gut Glück zur Höhle gewandert, und siehe da: Der Wind hatte den Fels ausreichend vorgetrocknet, in mühsamer Kleinarbeit zog sich Schubert am Seil die Wand hinauf und half nach.

Live on air

Die ersten Züge absolviert Schubert im Eiltempo. In seinem roten T-Shirt hat er etwas von Spiderman, wie er sich die Wand hinaufsaugt. Ein kleiner, farbiger Punkt im – je nach Kameraeinstellung – Beigegrau oder Blaugrau der Wand.

Schubert ist viele Autostunden vom nächsten Flughafen an der norwegischen Atlantikküste, doch tausende Menschen schauen ihm zu. Ein Kamerateam streamt sämtliche Versuche auf seinem Youtube-Kanal, es ist ein Novum im Klettersport. Gewöhnlich erfährt man von Erstbegehungen durch einen Instagram-Post, nun kann man live mitfiebern. Tausende Kletterfans haben das schon bei den ersten fünf gescheiterten Versuchen getan – und damit immerhin einen Bruchteil dessen mitbekommen, was es heißt, mit Project Big in den Ring zu steigen.

Sportklettern kann ein frustrierendes Geschäft sein, das lernen auch motivierte Amateure recht flott. Manchmal ist das Wetter im Weg, manchmal die Haut, meistens die Muskeln. Klettergärten sind voller Ahabs, die grantig ihre Weißen Wale anschauen und dann die einfachere Route daneben machen.

Project Big ist eine eigene Preisklasse. "Die Länge der Route macht sie zu einer enormen mentalen Herausforderung, die kürzere Routen nicht so haben", sagt Schubert. Andernorts versucht man sein Glück drei Minütchen lang, hier quält man sich allein bis zur Schlüsselstelle schon mehr als zehn Minuten durch harte Kletterei in knusprigem Überhang. "Man muss einen Riesenteil immer wieder klettern, den hat man dann auch irgendwann satt." An den Ruhepunkten, sagt Schubert, "hat man Zeit, nachzudenken – was man gar nicht so will. Das sind Sachen, mit denen man umzugehen lernen muss."

Arme belasten, Arme entlasten

Nach knapp sechs Minuten kommt Schubert zum ersten Boulderproblem. So nennt man die Stellen einer Route, die schon ohne das ganze Drumherum eine Herausforderung wären. Hier braucht man Kraft, Dynamik, all das Zeug, das die Muskeln von Normalsterblichen nur in Maßen bereitstellen können. Beim ersten Boulderproblem, mehreren weiten Zügen an einer mehr als diagonal überhängenden Wand, treten Schuberts Unterarmmuskeln schon recht majestätisch hervor. Er wirkt wie ein sehr freundlicher und friedfertiger Mensch, doch Watschn möchte man von diesen Geräten keine kassieren.

Zum nächsten Boulderproblem sind es wieder fünf Minuten – und diese sind keineswegs entspannt. Project Big ist keine Plaisirkletterei, die physische Dauerbrutalität dieser Route lässt sich kaum begreifen. Hie und da gibt es kurze Rastmöglichkeiten, doch "Rast" ist ein Etikettenschwindel. Die gepeinigten Arme dürfen sich kurz auf Kosten anderer Muskeln entspannen, es ist ein permanentes Kalkulieren der Abnützungsverhältnisse. Einmal steht Schubert im Spagat mit vollgespannten Beinen da, ein anderes Mal hängt er mit eingeklemmtem Unterschenkel kopfüber von der Decke und lässt die Arme baumeln.

Sich selbst für das Trockenputzen der Griffe am Seil hochziehen zu müssen habe ihn schon vor dem Start müde gemacht, erzählt Schubert. "Die Route ist so an meinem Limit, da muss alles perfekt sein. Von dem her habe ich das Gefühl gehabt, dass ich nicht mehr topfit bin, und habe mich schwer gefühlt." Wichtiges Aber: "Beim schwierigen Teil war das aber komplett weg."

Jakob Schubert in der Wand.
Jakob Schubert in der Wand.
Moritz Klee/Nodum Sports

Nach 13 Minuten Laktatproduktion kommt Schubert zur Crux, der schwierigsten Stelle der Route. Sie war ein Hauptgrund, warum Ondra und Schubert lange an der Machbarkeit von Project Big zweifelten. Schubert hängt mit beiden Händen an einer schmalen Kante, nur die vordersten Fingerglieder gehen sich aus. Aus dieser Position muss er die linke Hand auf einen gut einen Meter entfernten, diagonal abschüssigen Felsen bringen. Hier ist nicht einmal eine Kante zum Festhalten, einen schlechten Griff zu erwischen bedeutet einen gescheiterten Versuch. Die Physik wartet nur auf eine Gelegenheit, ihr Opfer zurück ins Seil zu reißen.

Treffer. Schubert stabilisiert sich mit dem rechten Bein, zieht die linke Hand nach, greift mit einem Schrei der Anstrengung in einen höher gelegenen Spalt. So oft hat er das schon probiert, so selten ist es ihm gelungen. Jede Bewegung baut auf volle Körperspannung, sämtliche Kontaktpunkte müssen den Körper so intensiv wie möglich in den Fels drücken.

Später Schreck

Schubert hat die Crux überwunden. Jetzt muss er nur noch diesen Weg, den Ondra 2013 begonnen hat, zu Ende marschieren. Linke Hand weiter, nachsteigen, rechte Hand weiter, nachsteigen, linke Hand weiter, der Fels bricht. Mitten in einem Allerweltszug zieht es Schubert plötzlich nach unten, bei tausenden Stream-Zuschauern spannen sich vor Schreck die Arme an.

Da droht das Schicksal erst mit Regennässe, lockt dann mit Trocknerwind, plagt seinen kraxelnden Spielball mit Schwächegefühlen, lässt ihm in der Wand Flügel wachsen – und legt ihm dann genüsslich eine auf. Ein herausgebrochener Griff, der Klassiker unter den Kletteralbträumen, und das ausgerechnet jetzt. Schuberts rechte Hand zieht sich an einem hornförmigen Felsvorsprung nach oben, die linke hängt auf halbem Weg zum nächsten Griff in der Luft, als das Felshorn nachgibt.

Schubert hält sich in der Wand. Zwei Finger drücken ins Leere, zwei andere erleben ihre Sternstunde. Jede Hand ist nur so stark wie ihr schwächstes Fingerglied, und nun verdienen der Ring- und kleine Finger an Schuberts rechter Hand jedes Gramm Protein, das er ihnen in den letzten Jahrzehnten zugeführt hat. "Es war schon relativ knapp", sagt Schubert dem STANDARD tags darauf. "Die zwei Finger haben mich gerade noch gehalten. Ich will mir gar nicht vorstellen, wie das mental gewesen wäre, wenn ich da rausgeflogen wäre."

Aus dem Weg, Schicksal, hier kommt Schubert. Er hat etwas von einem Sisyphos, der den Fels auf dem Gipfel so in den Boden knallt, dass er nicht mehr bergab rollen kann. Mit einem leicht angewiderten "What the …" schmeißt das Muskelpaket das gebrochene Stück Fels weg und klettert weiter. Das Finish dürfte etwa die Schwierigkeit 8a haben, das fühlt sich für Schubert in etwa so an wie eine Leiter für unsereins. Aber auch hier kann man danebensteigen. "Ich bin diesen Grad noch nie so nervös geklettert. Ich habe nur mehr Angst gehabt."

Ja, Panik

Der Stream-Chat teilt seine Angst. Aus der Nervosität einsamer Beobachter wird ein zitternder Blob, nur gelegentlich unterbrochen von Schmähbären ("In meinem Gym ist das eine 7a") und berechtigten Fragen ("bro how long IS THIS ROUTE"). Drei Minuten nach der Schrecksekunde macht Schubert seinen rechten Arm ganz lang, schraubt die Finger ein letztes Mal in den Fels, platziert sorgfältig die Füße – und klick. Das Seil hängt nach mehr als 19 Minuten im Umlenker, Project Big ist vollendet. Der derzeit größte Skalp des Sportkletterns gehört Jakob Schubert.

"Es ist eine der geilsten Routen der Welt. Da die Erstbegehung zu haben ist unglaublich lässig", sagt die Kletterlegende. "Es ist die King Line in Flatanger, und Flatanger gehört zu den besten Sportklettergebieten, die es im High-End-Klettern gibt." Dass ein ausgebrochener Griff beinahe den Durchstieg verhinderte, sei "im Nachhinein eine witzige Geschichte". Aber Schubert scherzte wohl nicht ganz ohne Grund direkt nach dem Ankommen auf dem Boden: "Dieses Horn hätte meine Karriere beenden können. Da hätte es keinen Weg zurück gegeben, wenn ich hier ins Seil gefallen wäre."

9c oder 9b+?

Bis zum 20. September gab es weltweit nur zwei Routen der Schwierigkeit 9c, Silence in Flatanger, 2017 von Ondra durchstiegen, und DNA in Les Gorges du Verdon, die Sébastien Bouin vergangenes Jahr schaffte. Und jetzt? Schubert darf der Route als Erstbegeher Namen und Grad geben. Ersterer bleibt, Zweiterer könnte gegebenenfalls von anderen Kletterern, die die Route schaffen, korrigiert werden. In der Praxis ist das vor allem dann der Fall, wenn jemand einen einfacheren Weg findet, durch Schlüsselstellen zu kommen.

Im Gespräch mit dem STANDARD will sich Schubert noch nicht festlegen. "Ich habe schon eine Idee, was den Namen angeht, aber ich will das noch mit Adam besprechen, ob das für ihn auch passt. Er war stark beteiligt, von dem Monat, das wir voriges Jahr investiert haben, haben wir beide sehr profitiert, was die Lösung betrifft." Auch was den Grad betrifft, habe er "schon ein bissl eine Idee. Ich werde die Tage aber noch nutzen, um mir ein paar andere Routen in der Höhle als Vergleich anzuschauen."

Unabhängig von Schuberts Urteil steht jetzt schon fest, dass seine vergangenen zwei Monate pure Klettergeschichte waren. Zugegeben, das waren sie mit den Anfang August errungenen Weltmeistertiteln fünf und sechs bereits – aber nun, in dieser Höhle im fernen Norwegen, ist Jakob Schubert noch etwas größer geworden. (Martin Schauhuber, 23.9.2023)

Der Stream des Durchstiegs zum Nachschauen:

LIVE ascent of Project Big in Flatanger
Das Klettern startet etwa bei Minute 12.
Jakob Schubert