Steirischer Herbst 2023 Lulu Obermayer
Die Künstlerin Lulu Obermayer schwebte am Eröffnungsabend des Steirischen Herbstes über dem Uhrturm. In ihrer Performance prangert sie die fehlende Sichtbarkeit von Frauen in der Oper an.
APA/ERWIN SCHERIAU

Wenn Lulu Obermayer bei ihrer Eröffnungsperformance von einem Kran beim Grazer Uhrturm herunter klagt, ist die Richtung des diesjährigen Steirischen Herbstes vorgegeben. Als Verschnitt von Edward mit den Scherenhänden in Punk-Montur moniert die Künstlerin die fehlende Sichtbarkeit weiblicher Positionen in der Oper. Sie stellt das Männliche in den Mittelpunkt: mithilfe der Sänger Wilfried Zelinka und Ivan Orescanin, mit Goethe und Heine, mit Bach-Kantaten und Verdi-Oper. Der Bubenchor, der die Darbietung jammernd unterstreicht, ist sowohl stimmlich als auch visuell das ansprechendste Element der Eröffnungsperformance Agoraphobia.

Ekaterina Degot startet damit in das erste Jahr ihrer zweiten Amtszeit als Intendantin an der Mur. Am Donnerstagabend ging es los. Das diesjährige Motto Humans and Demons soll nicht das Verhältnis zwischen Gut und Böse ermitteln, sondern den Status quo vor den Anfechtungen durch das Böse bewahren.

Fokus auf die Stadt

"Wir wissen, was schrecklich ist, aber oft nicht, was gut ist. Soll es gut sein für den Planeten im nächsten Jahrhundert oder gut für den Urlaub unserer Kinder heute? Gut für den gerechten Sieg über den Aggressor oder für den sofortigen Friedensvertrag mit dem Aggressor? Für die offene Ablehnung der Diktatur oder für die Sicherheit unserer Familie?", fragt Degot in ihrer Eröffnungsrede. Zugleich wird beim Festival ein Fokus auf die Stadt Graz gelegt.

Steirischer Herbst 2023 Ekaterina Degot
Ekaterina Degot startet mit ihrer Eröffnungsrede in das erste Jahr ihrer zweiten Amtszeit als Intendantin an der Mur.
APA/ERWIN SCHERIAU

Das wird vor allem in den Ausstellungen deutlich, die ab sofort bis Festivalende (15. Oktober) geöffnet sind. Leerstehende Räume werden zur Schaufläche zeitgenössischer Kunst. Während in der letzten Ausgabe noch eine Schau in der Neuen Galerie das Herzstück war, stellt man heuer vier verschiedene Gruppenpräsentationen ins Zentrum. Eine Kooperation mit der Neuen Galerie ist erst wieder für 2024 geplant.

Dünne Gruppenschauen

Die Ausstellungen sind mit einem Mix aus kommissionierten und bereits bestehenden Arbeiten bestückt. Sie fallen jedoch allesamt recht dünn aus und überzeugen nur in Einzelfällen. In einem ehemaligen Callcenter, das zu der Rundfunkstation Demon Radio umfunktioniert wurde, ist etwa das 25-minütige Video Onset von Anna Engelhardt und Mark Cinkevich zu sehen. In ihm deckt das Duo handwerklich geschickt die Infrastruktur des russischen Militärs auf. Der Belarusse Cinkevich muss aufgrund sehr realer politischer Gefahren sein Gesicht bedecken und tritt öffentlich nur mit Sturmhaube auf.

Das Forum Stadtpark wird zur Villa Perpetuum Mobile und damit zum fiktiven Wohnort des Physikers Stefan Marinow, einem Kritiker von Albert Einsteins Relativitätstheorie und Star der Querdenkerszene, wie man sie heute nennen würde. Trotz durchaus gehaltvoller Ansätze (geschwärzte Wanduhren von Vadim Fishkin als Seitenhieb auf Einstein) kratzt man auch hier eher an der Oberfläche.

Steirischer Herbst 2023 Church of Ruined Modernity
Im Innenhof des Minoritenklosters steigen Dämpfe aus einer Installation von Maria Loboda auf.
Mathias Voelzke

Ebenso in Submarine Frieda, einem ehemaligen Supermarkt auf dem Griesplatz, bei dem die kuratorische Kohärenz weitgehend undurchsichtig bleibt. Zumindest ein visuelles Ausstellungshighlight ist die Church of Ruined Modernity, die im Minoritenkloster optisch einiges hermacht. Im Innenhof steigen Dämpfe aus einer Installation von Maria Loboda auf, die das Orakel von Delphi mimt und moderne Architektur als Widerspiegelung von Macht und Umsturz hinterfragt.

Große Herausforderung

Gekrönt sollte der Eröffnungsabend mit einer Performance der ungarischen Choreografin Adrienn Hód samt Kompanie werden – das ging leider in die heruntergelassenen Hosen. Als man Zeugin eines Countdowns wurde – eine Tänzerin zählte von 1000 herunter – und das nackte Ensemble sich im Takt besungener Taubenrassen wiegte, verließ das Publikum den Saal in Scharen. Voices of Power will Moralvorstellungen und Regelverständnis provozieren, war aber hauptsächlich eine Herausforderung für das eigene Durchhaltevermögen.

Steirischer Herbst 2023 Voices of Power
Voices of Power als Herausforderung für das eigene Durchhaltevermögen.
steirischer herbst / Johanna Lamprecht

So ließ die Eröffnung etwas ratlos zurück. Vermittlungsprogramme in Form von Künstlergesprächen, Rundgängen und Workshops sollen helfen, den Steirischen Herbst aus der Kunst-Bubble hinaus in die Bevölkerung zu tragen. Angesichts des bisher Gebotenen könnte das zur Titanenaufgabe werden. (Caroline Schluge, 22.9.2023)