
Giorgio Napolitanos Stunde schlug am 11. November 2011: Silvio Berlusconi stand an der Spitze einer durch interne Streitereien gelähmten Regierung, die wegen anhaltender Misswirtschaft das Vertrauen der Finanzmärkte und der europäische Partner verloren hatte. Die Risikoaufschläge für italienische Staatsanleihen gegenüber den deutschen Bundesschatzbriefen, der sogenannte "Spread", war auf über 500 Basispunkte angestiegen, das Land taumelte in Richtung Zahlungsunfähigkeit. Da bestellte Napolitano den "Cavaliere" zu sich in den Quirinalspalast, den Amtssitz des italienischen Staatspräsidenten, und frage ihn: "Haben Sie und ihre Regierung noch die Kraft, das Steuer mit überzeugenden und einschneidenden Maßnahmen herumzureißen?"
Der inzwischen ebenfalls verstorbene Berlusconi blieb eine Antwort schuldig – zwei Tage später kehrte er in den Quirinal zurück, um Napolitano sein Rücktrittsschreiben zu übergeben. Der vierfache Ex-Premier verliess den Palast durch einen Hinterausgang; er kehrte nie mehr an die Regierungsspitze zurück. Vor dem Haupteingang des Quirinals feierten Hunderte von Römerinnen und Römern den Sturz Berlusconis mit dem Absingen des Partisanen-Lieds "Bella Ciao". Napolitano war in diesen Tagen zur zentralen, alles dominierenden Figur auf der politischen Bühne Italiens geworden, zur ordnenden Kraft im Römer Chaos, zum Denker und Lenker der Republik – kurz: zu "Re Giorgio", also "König Giorgio", wie er von den Italienern seither respekt- und liebevoll genannt wurde.

80 Prozent in Umfragen
Napolitano hatte diese dominierende Rolle nicht gesucht. Aber nach dem November 2011 galt er als "Interventionist", der aktiv in das politische Geschehen eingegriffen hat – im Unterschied zu seinem Nachfolger Sergio Mattarella. Dieser füllt seine Rolle als Garant der Verfassung zwar genauso gewissenhaft und eisern aus wie Napolitano, aber er setzt bei der aktuellen Rechtsregierung von Giorgia Meloni mehr auf stille Überzeugungsarbeit hinter den Kulissen. Gemeinsam ist den beiden Süditalienern – Napolitano stammt, sein Name verrät es schon, aus Neapel, Mattarella aus Palermo - ihre enorme Beliebtheit in der Bevölkerung, die manchmal an Verehrung grenzt. In Umfragen kam Napolitano auf bis zu 80 Prozent, und auch Mattarella liegt seit vielen Jahren stabil über 70 Prozent. Ministerpräsidentin Meloni kommt nicht einmal auf 40 Prozent.
Giorgio Napolitano war vom Parlament im Jahr 2006 zum ersten Mal in das höchste Staatsamt gewählt worden – als erster und bisher einziger Kommunist in der Geschichte der Republik. Auch eine zweite Premiere geht auf sein Konto: Er war der erste italienische Staatspräsident, der nach der siebenjährigen ersten Amtszeit wiedergewählt wurde (2013) – obwohl er sich, nicht zuletzt aus Altersgründen, lange dagegen gewehrt hatte.Vor seiner Zeit auf dem Quirinalshügel war Napolitano unter anderem Parlamentspräsident und Innenminister gewesen. Als Student war er zur Zeit des Faschismus Mitglied einer Jugendorganisation, die gegen Mussolini kämpfte.

Einen nicht geringen Teil der Sympathien – sowohl bei den Italienerinnen und Italienern, als auch auf der internationalen Bühne - verdankte Napolitano seiner ausgesuchten Höflichkeit und seinen tadellosen Manieren: Er war ein Gentleman alter Schule, ein wahrer "Signore". Und er war hundertprozentig integer - eine Eigenschaft, die in der italienischen Politik nicht sehr verbreitet ist. Napolitano war befreundet mit dem früheren deutschen Bundeskanzler Willy Brandt; der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger nannte ihn ironisch "meinen Lieblings-Kommunisten". Zwei Jahre nach der Wahl zu seiner zweiten Amtszeit trat Napolitano im Jahr 2015, im bereits hohen Alter von 89 Jahren, aus gesundheitlichen Gründen zurück. Nun ist er in Rom verstorben.
Trauerbekundungen in Italien
Der Tod Napolitanos löste Trauer in Roms politische Szene aus. "Ein großer Teil der Geschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts spiegelt sich im Leben von Giorgio Napolitano wider", kommentierte Präsident Sergio Mattarella, der seinen Vorgänger als "Garant der Werte der Verfassung und unserer Gemeinschaft" würdigte.
Die italienische Premierministerin Giorgia Meloni kondolierte der Familie Napolitanos. Auch Expremier Mario Draghi würdigte den verstorbenen Staatschef. "Präsident Napolitano war ein absoluter Protagonist der italienischen und europäischen Geschichte der letzten 70 Jahre. Als Präsident der Republik, Präsident der Abgeordnetenkammer und Innenminister war er in der Lage, den Dialog mit allen politischen Kulturen mit der Fähigkeit zu verbinden, mit Weisheit und Mut zu handeln und die Bürger und die Verfassung zu schützen", so der ehemalige EZB-Chef.
Auch der Papst gedachte Napolitanos. "Sein Tod hat in mir Gefühle der Ergriffenheit und zugleich der Dankbarkeit für diesen Staatsmann geweckt, der bei der Ausübung seiner hohen institutionellen Ämter große intellektuelle Gaben und eine aufrichtige Leidenschaft für das politische Leben Italiens, sowie ein lebhaftes Interesse für das Schicksal der Nationen an den Tag gelegt hat. Ich erinnere mich dankbar an die persönlichen Begegnungen, die ich mit ihm hatte", so der Papst in einem Telegramm an Napolitanos Frau Clio Bittoni.
Die italienische Regierung ein Staatsbegräbnis für Napolitano für den kommenden Dienstag beschlossen. Geplant ist eine nicht religiöse Zeremonie in der Abgeordnetenkammer. Der Leichnam wird am Sonntag ab 10 Uhr im Beisein von Präsident Sergio Mattarella im Senat aufgebahrt werden. (Dominik Straub aus Rom, APA, red, 22.9.2023)