Im Dezember 2017 hörte ihre Familie zum letzten Mal von Rahile Dawut. Die Professorin für Ethnologie, spezialisiert auf uigurische Traditionen, sagte, sie wolle von Urumtschi, der Hauptstadt der autonomen Region Xinjiang, nach Peking reisen. Erst ein Jahr später wird klar: Die chinesischen Behörden haben Dawut inhaftiert. Sie wurde Ende 2018 angeklagt, die "Sicherheit des Staates gefährdet zu haben". Am Wochenende nun wurde das Urteil gefällt: lebenslänglich.

All dies geschieht zu einer Zeit, in der man meinen könnte, es gelinge der chinesischen Regierung, langsam einen Mantel des Schweigens über die Vorkommnisse in Xinjiang zu legen. Spätestens ab 2014 begann für Millionen von Uiguren ein Albtraum aus Überwachung, Gehirnwäsche und Lagerhaft. Forscher wie Adrian Zenz haben die Existenz zahlreicher Lager belegt, die in diesen Jahren in der hauptsächlich von muslimischen Uiguren bewohnten Region inhaftiert wurden. Hinzu kommen Berichte aus erster Hand von Überlebenden der Lager, denen die Ausreise aus China gelungen ist.

Rahile Dawut wurde zu lebenslanger Haft verurteilt.
Rahile Dawut wurde zu lebenslanger Haft verurteilt.
AP/Lisa Ross

Umerziehung und Überwachung

Seit etwa 2018 aber ergeben mehrere Datenquellen, dass die Zahl und die Größe der Lager zurückgehen. Das dürfte allerdings nicht an einem plötzlichen Gesinnungswandel der kommunistischen Partei Chinas liegen, die sich nun auf die Menschen- und Minderheitenrechte besinnt. Vielmehr ist die Operation aus Sicht des chinesischen Regimes "geglückt". Rund zwei Millionen Menschen haben mittlerweile das Lagersystem durchlaufen und gelten als "umerzogen". Außerhalb der Lager hat man den Überwachungsstaat mit Gesichtserkennungskameras und Stimmprofilen perfektioniert.

Ein Umerziehungslager in Artux in Xinjiang.
Ein Umerziehungslager in Artux in Xinjiang.
AFP/PEDRO PARDO

Der Welt will man nun ein neues, prosperierendes und friedliches Xinjiang präsentieren, in dem die Identität der Uiguren auf ein paar Kostüme und volkstümliche Tänze reduziert wurde. Immer wieder haben Journalisten in den vergangenen zwei Jahren darauf hingewiesen: Hinter die Kulisse in Xinjiang zu blicken ist nahezu unmöglich geworden. Gesprächspartner schweigen aus Angst, die Überwachung ist lückenlos. Nur in den Exilgemeinden vor allem in Kasachstan und in der Türkei erfährt man noch etwas aus erster Hand: verzweifelte Menschen, die von ihren engsten Angehörigen seit Jahren nichts mehr gehört haben, und Erzählungen voll haarsträubender Grausamkeit von denen, die die Lager überlebt haben.

Einige deutschsprachige Sinologen scheinen jüngst auf die Bemühungen der KP hereingefallen zu sein. Die China-Forscher Thomas Heberer und Helwig Schmidt-Glintzer veröffentlichten vergangene Woche einen Reisebericht in der "Neuen Zürcher Zeitung", der für viel Aufruhr sorgte. Den Vorwurf, die Verbrechen zu relativieren, wiesen die beiden jüngst zurück, riefen aber zu mehr Beschäftigung mit dem Thema und Dialog auf. Das klingt nach Konsens, ist in diesem Fall aber angesichts der breiten und raffinierten Propagandaanstrengungen der KP unangebracht. Nötig wäre mehr Dialog mit den Angehörigen der inhaftierten und verschwundenen Uiguren. Dass nun wenige Tage nach dem umstrittenen Bericht der beiden Sinologen eine weitere uigurische Intellektuelle zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, sagt eigentlich alles. (Philipp Mattheis, 25.9.2023)