Schwan zwischen Meer und Plakat
Diskurs am Seeufer und in der mondänen Innenstadt.
Gregor Auenhammer

Im September 2015 wurden von allen Staaten der Vereinten Nationen unter dem Titel "Agenda 2030" 17 nachhaltige Entwicklungsziele alias "Sustainable Development Goals" (SDGs) diskutiert und einstimmig deren globale Umsetzung beschlossen. Definiert wurde in den SDGs die Zukunft der Menschheit, der Natur und des Planeten – virulente Themen und Ziele, die einen Referenzrahmen für ein friedliches und gerechtes Zusammenleben in einer globalen Gesellschaft bilden. Der Katalog reicht von der Bekämpfung von Armut und Verschmutzung über die Förderung von Bildung sowie die Forderung nach Selbstbestimmung, Geschlechtergerechtigkeit, Frieden und Freiheit bis zum maßvollen Nutzen der Ressourcen des Planeten Erde. Passiert ist, international betrachtet, bislang wenig – zu wenig, mahnt Daniel Dubas, Beauftragter des Schweizer Bundesrats für die Agenda 2030. Die Notwendigkeit, zu handeln, sich persönlich zu engagieren, ist offenbar im kollektiven Bewusstsein noch nicht ausreichend angekommen. Abhilfe soll nun eine neuartige Kooperation zwischen Wissenschaft und Fotografie schaffen.

Der öffentliche Raum Zürichs wird derzeit als Ausstellungsraum verwendet.
Gregor Auenhammer

Unangenehme Wahrheiten

"Zürich, Limmatquai / zwanzig-zwanzig-drei / Und für die Zukunft sei gesagt / Sicher kommt mal wer und fragt / Was die Jungwähler so denken / Über Kräfte, die sie lenken / Schwere Wolken, Donnerschlag / Und wer sieht sich da jetzt / Auf der Flucht", könnte man frei nach Falcos Song Auf der Flucht anstimmen, betrachtet man die mit wissenschaftlichen Kommentaren und Lösungsansätzen von namhaften Proponenten der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) in Zürich sekundierten Fotoserien des innovativen Festivals Open Your Eyes.

Oszillierend zwischen absoluter Dringlichkeit, Dramatik und pittoresker Schönheit, führen großformatige Tableaux, verteilt auf einen über drei Kilometer langen Parcours, durch die Zürcher Innenstadt. Wider die saturierte Gemütlichkeit soll sich die grosso modo mit Wohlstand gesegnete, gutsituierte Bevölkerung mitsamt den internationalen Besuchern unerwartet und ungeschützt mit unangenehmen Wahrheiten auseinandersetzen, um üblichem Eskapismus vorzubeugen.

Die Schönheit fotografischer Dokumentation verleitet oft dazu, einer trügerischen Idylle Glauben zu schenken.
Gregor Auenhammer

Öffentlicher Ausstellungsraum

Der öffentliche Raum in Zürich mutiert so seit Anfang September zum Ausstellungsraum. Unvermutet wird man konfrontiert mit Armut, Krankheit, Ausbeutung, Unterdrückung, Ungleichheit, Ungerechtigkeit, mit Dürreperioden, Überschwemmungen, Ernteausfällen, Verschmutzung, Flucht, Klimawandel und Krieg. Die hochkarätige, von Lois Lammerhuber kuratierte fotografische Dokumentation zeigt aber nicht nur Bilder von der zerstörerischen Wucht des Menschen, sondern weist auch Pfade zur Verbesserung der Welt. Wie Frieden entstehen kann, wie Frauen Gleichheit in sie unterdrückenden Staaten erreichen können, wie Fotografien durch Bewusstseinsschaffung und daraus resultierendes humanitäres Engagement Veränderungen bewirken können, all das wird sicht-, greif- und begreifbar. Dem Gros der Fotoserien sind wissenschaftliche Erkenntnisse und Lösungsansätze beigestellt. Allein schon die Statements des Eröffnungssymposiums im Zürcher Hotel Baur au Lac ließen etwas wie Hoffnung aufkeimen.

Günther Dissertori, Rektor der ETH Zürich, hob in seinem Referat die gesellschaftliche Verantwortung fachlicher Kompetenz der Forschung hervor. Laut einer Impact-Studie sind lebenslanges Lernen und Neugier die Voraussetzungen für Empathie und Humanismus. Das Festival Open Your Eyesergebe gerade bezüglich der Präsentation der Komplexität unseres Zeitalters eine Symbiose zwischen Fotografie und Wissenschaft. Daniel Dubas, Gesandter des Schweizer Bundesrats und Repräsentant der Agenda 2030, erinnerte an die Wichtigkeit der 17 Sustainable-Development-Goals und appellierte daran, dass das persönliche Engagement mindestens so wichtig sei wie das Commitment der Politik (ohne diese aber aus der Pflicht zu entlassen).

Die Möglichkeit der Visualisierung mahne in weit eindrucksvollerer Weise, als Worte dies könnten. Fotograf James Balog erzählte, dass er früher Menschheit und Natur getrennt betrachtet habe. Heute ist er von der Falsizität dieser seiner Annahme überzeugt. Hand in Hand ginge es beiden gut – oder schlecht. Er meinte, die vier Elemente seien aufgrund der Intervention des fünften Elements (des Menschen) aus der Balance geraten.

Kunstwerke unter Bäumen
Kunst, wohin das Auge blickt.
Gregor Auenhammer

Wissenschaft und Kunst im Dialog

Seine These der "Human Tectonics" griffen auch Effy Vayena und Paolo Burlando, Wissenschafter an der ETH Zürich, auf. Pulitzerpreisträgerin Renée Byer dokumentiert seit Jahrzehnten Fairness und Ungleichheit und erzählte entlang ihrer Langzeitbeobachtungen von Ausbeutung, Unterdrückung und Kinderarbeit davon, dass publizierte Fotos Menschen in der "ersten Welt" zu humanitärem Engagement bewegt hätten. Viele Kinder seien dem Kreislauf entkommen und hätten nun eine Perspektive pro futura. Claudia Zingerli sprach in Zusammenhang mit dem Festival von einem Geschenk. "Zürich erstrahlt in einem neuen Licht", meinte die an der ETH Verantwortliche am Eröffnungstag. Hansruedi Strasser, Präsident des gemeinnützigen Vereins Open Your Eyes, verglich seine Vorfreude mit der eines Kindes am Tag vor Weihnachten. Effy Vayena betonte, die ethische Komponente, vor allem im Forschungsprozess bei technischen Entwicklungen, sei nicht außer Acht zu lassen. Wasserexperte Paolo Burlando hob den innovativen Diskurs hervor, die Möglichkeit der Wechselwirkung von Forschenden und Kreativen angesichts fotografischer Realitäten. Fotos ergäben Erkenntnisse und visualisierten Veränderungen. Vice versa ließen sich Forschungen visualisieren, der interessierten Öffentlichkeit zugängig machen.

Die Konfrontation im Alltag soll zum Nachdenken anregen.
Gregor Auenhammer

Gemeinsame Suche nach Wahrheit

Die Dynamik des Narrativs lobte auch der Präsident der ETH Zürich, Joel Mesot, am Tag der feierlichen Eröffnung auf der Polyterrasse. Neugierde herrsche auf beiden Seiten, bei Fotografen wie Wissenschaftern. Ein Dialog entstehe durch Diskurs, Diskussion und die Verbindung unterschiedlicher Positionen. Am Ende der außergewöhnlich spannenden und lebhaften Diskussion appellierte Zingerli noch einmal an die Notwendigkeit von "Sichtbarkeit", an den Prozess des "Bewusstmachens" von Dilemmata und Provisorien. Tagtägliches Ziel müsse sein, zu hinterfragen, was wirklich wichtig ist, präzisierte Lammerhuber, selbst Fotograf, Verleger und Ausstellungsmacher, was echt ist, was ehrlich, was wahr ist.

Zingerli präzisierte, man müsse frühzeitig "lernen, zu lesen, was wahrhaftig ist"; analog wie digital. Schriftstellerin Evelyn Schlag und Kuratorin Gisela Kayser brachten als weiteres Ziel die Wertschätzung und Würde des Menschen ins Spiel. Burlando forderte "Aufmerksamkeit durch Entschleunigung" – entgegen heute üblichen Usancen. Einigkeit herrschte darüber, dass Wissenschaft, Fotografie und Medien – in einer Ära zunehmender Skepsis gegenüber diesen demokratischen Instanzen der Aufklärung –, dass gerade eine Sensibilisierung immens wichtig wäre, bei jungen wie betagten Menschen, um Wahrheit, Fake, künstliche Intelligenz (sowie deren Hidden Agenda), Realität und Wahrhaftigkeit voneinander unterscheiden zu können.

Plakat vor Museum
Vergangenheit & Zukunft, plakativ betrachtet auf der Polyterrasse der ETH Zürich.
Gregor Auenhammer

17 Sustainable Development Goals

Angesichts der Zürcher Ausstellung ist ein Blick nach Österreich angebracht. Bereits im Jänner 2016 hat der Ministerrat in einem Beschluss alle Bundesministerien mit der nationalen Umsetzung der Agenda 2030 beauftragt, um "die globalen Nachhaltigkeitsziele in die jeweiligen relevanten Strategien und Programme zu integrieren und gegebenenfalls entsprechende Aktionspläne und Maßnahmen auszuarbeiten". Seit 2018 führt das Bundesministerium für Klimaschutz, Umwelt, Energie, Mobilität, Innovation und Technologie die Arbeiten zur Umsetzung des Weltzukunftsvertrags strategisch abgestimmt in einem eigenständigen Prozess durch. Mit dem SDG-Aktionsplan 2019+ wird transparent, wie die SDGs in den Bereichen Umwelt, Klimaschutz, Landwirtschaft, Wasser- und Forstwirtschaft sowie Tourismus verankert sind.

Die gemeinsam mit dem Umweltbundesamt entwickelten Methoden und Instrumente sind einerseits Politikfeld-Analysen, andererseits wird mit Prüfinstrumentenwie dem SDG-Fitnesscheck oder der EX-ante-SDG-Verträglichkeitsprüfung gearbeitet. Zur Umsetzung trägt das Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung einiges bei. Bei Hochschul- und Forschungskooperationen stehen Klima, Ressourcen und Nachhaltigkeit im Mittelpunkt. Dass Forschung zu Lösungen globaler Herausforderungen beitragen kann, zeigen Initiativen wie Joint Programming Initiative Climate, Earth System Sciences und – besonders aktuell – das Climate Change Centre Austria.

Symposion und Ausstellungsparcours aber geraten keineswegs nur zum akademischen Akt. Lois Lammerhuber sprach von einem "Zeichen der Freude", um "das Leben zu feiern". Angesichts der 500 Fotos von 50 Künstlerinnen und Künstlern von allen Kontinenten der Erde formulierte Medea Glatt, Repräsentantin der "next generation", Wünsche an die Zukunft.

Personen auf Treppe
Internationale Fotografinnen und Fotografen während des Rundgangs durch den Fotoparcours.
Gregor Auenhammer

In 17 Stationen durch die Altstadt

Die bis 15. Oktober in Zürich gastierende, unorthodoxe künstlerisch-wissenschaftliche Intervention führt entlang von 17 Stationen durch die Altstadt. Jede repräsentiert eines der 17 "big goals" der Uno. Start ist auf dem Campus der ETH Zürich mit einem Überblick. Das Gros der Ausstellung schlängelt sich durch die Innenstadt. Entlang des Limmatquais verführen Fotos aus der Meerestiefe zum Glauben an eine intakte Welt. Die pittoreske Schönheit fotografischer Dokumentationen im Schatten des Rütli verleitet dazu, einer prinzipiell zu misstrauenden Idylle zu verfallen. Großformatige Tableaus, teils ganze Fassaden füllend, künden von Ausbeutung, Überfischung, Klimawandel. Während am goldenen Ufer des Zürichsees in Form einer Skulptur von Jean Tinguely der Mobilität gehuldigt wird, zeugen drastische Fotoserien am silbernen Ufer von Armut, Ungerechtigkeit, den Folgen von Hungersnöten, Migration, Flucht, Krieg und sonstigen sozialen und gesellschaftlichen Verwerfungen – Kontrast beim Flanieren an der Promenade.

Noch einmal kurz zurück zum Start. Seinerzeit, als Falco noch nicht im Mainstream angekommen war, sondern im Underground aktiv war, hieß es in Auf der Flucht: "Zürich, Limmatquai / Neunzehnhundertachtzig zwei / Alles ist in Ordnung / Nichts am Platz / Ein Ende hat's mit dem Rabatz / Gewonnen hat die Steuer / Und am Seeufer kein Feuer, aha. // Das Fazit aus fünfzig Jahren / Die Kontrolle zu bewahren / Edle Werte zu genießen / Sieht man, wohin Gelder fließen // Was die Ordnung anbelangt / Hat sich alles, Gott sei Dank / Fast wie ganz von selbst ergeben / Denn die starke Hand siegt eben / Hält die Märchenwelt beisammen / Und die Räuber sind gefangen, aha".

Skulptur vor See
Kontrast zur Idylle am See: Skulptur von Jean Tinguely.
Gregor Auenhammer

Virulent bis brennend

Dass die Probleme (bewusst nicht verlogen als Herausforderungen apostrophiert) virulent bis brennend sind, ist nicht zu leugnen. Aber auch damals, 1982, war die No-Future-Bewegung durchaus begründet. Der Club of Rome hatte schon in den 1970ern vor den Folgen der Globalisierung gewarnt, Filme wie Septemberweizen oder Koyaanisqatsi zur Umkehr ermahnt. Vor der Realität zu flüchten ist de facto weder möglich, noch kann dies ein Ziel sein.

Magnum-Legende Cornell Capa prägte Mitte des 20. Jahrhunderts den Begriff der "concerned photography". Dem fügt das Festival mit der Aufforderung, "die Augen für das Wesentliche zu öffnen", den Begriff der "concerned scientists" hinzu. Der wissenschaftlich-fotografische, diskursive Parcours gerät, als philosophische Tour de Force, in Summe zu einem einprägsamen Plädoyer für Frieden, Freiheit, Toleranz und Selbstbestimmung. (Gregor Auenhammer, 1.10.2023)