Regierungspartei zu sein ist kein reines Vergnügen – auch nicht in Großbritannien. Wieder einmal streiken die Eisenbahner, sodass Delegierte, Lobbyisten und Berichterstatter an diesem Wochenende Mühe hatten, zum Jahrestreffen der britischen Konservativen in Manchester zu kommen. Am Tagungsort, ausgerechnet einem früheren Bahnhof, mussten sie am Sonntag spießrutenlaufen durch lautstarke Demonstranten, die den seit Monaten schwelenden Ärztestreik unterstützen.

Rishi Sunak und Laura Kuenssberg im TV-Studio
Der britische Premier Rishi Sunak hat alle Hände voll zu tun, noch glaubwürdig beim Publikum anzukommen – so auch in einer BBC-Sendung mit Interviewerin Laura Kuenssberg.
AFP/BBC/JEFF OVERS

Für Partei- und Regierungschef Rishi Sunak, vor knapp einem Jahr als fünfter Tory-Premierminister binnen sechs Jahren ins Amt gekommen, stellt die traditionelle Herbsttagung seine erste und einzige Chance dar, sein eigenes Bild in der Öffentlichkeit zu verändern und die Aussichten seiner Partei zu verbessern. Um die steht es schlecht, wenn den Umfragen zu trauen ist: Seit Monaten liegt die oppositionelle Labour-Party unter ihrem wenig charismatischen Chef Keir Starmer um rund zwanzig Prozent vorn.

Wie ein Prediger aus Kalifornien

Sunak gibt sich unverdrossen, verbreitet Hoffnung und Optimismus, wirkt dabei aber wie ein Prediger aus Kalifornien, wo der Investmentbanker und seine Milliarden-schwere Gattin Akshana Murty schöne Jahre verbracht haben. Seine ursprüngliche Strategie bestand darin, sich als kompetenten Kontrast zum Chaos unter seinen Vorgängern Boris Johnson und Liz Truss zu präsentieren. In den vergangenen Wochen tritt der 43-Jährige zunehmend als Veränderer auf – eine neue Herangehensweise, die Kabinettsminister Greg Hands dieser Zeitung schon im August offenbarte: Das Land brauche die Veränderung (change), und Rishi Sunak stellt diese Veränderung dar.

Der Ein-Wort-Slogan Change soll wohl das etwas sperrige andere Motto der Konservativen ausgleichen: "Langfristige Entscheidungen zum Wohl des Landes", das will Sunak den Menschen als sein Leitmotiv vermitteln. Gemeint sind damit einstweilen nur Entscheidungen zur Korrektur vermeintlicher Fehler aus 13 Jahren konservativer Regierungszeit: die Verwässerung besonders ehrgeiziger Klimaziele, mit deren Hilfe die Brexit-Insel unter Johnson grüne Investitionen ins Land holen wollte; eiserne Haushaltsdisziplin nach der fiskalischen Inkontinenz unter der 49-Tage-Premierministerin Truss; die Verkürzung der geplanten Hochgeschwindigkeitsstrecke zwischen London über Birmingham nach Manchester, mit der David Cameron den englischen Norden aufmöbeln wollte.

Gegen 30-km/h-Zonen

Stattdessen präsentiert sich der Partei-Rechte als Schutzpatron der Autofahrer. Tempo-30-Zonen in Innenstädten will Sunak ebenso einen Riegel vorschieben wie den umstrittenen Initiativen, aus Wohnvierteln den Autoverkehr weitgehend zu verbannen. Auch Gebühren für alte Diesel- und Benzinautos soll es über London hinaus nicht geben. Er werde dem "Krieg gegen die Autofahrer" Einhalt gebieten, verkündet der Premier, auch die angeblich geplante "Steuer fürs Fleischessen" und Abfalltrennung in sechs unterschiedlichen Eimern werde es mit ihm nicht geben. Wer da gegen wen Krieg führt oder gar das Verzehren von Roastbeef unter Strafe stellen will, bleibt bis auf weiteres offen.

Autos an der Londoner Stadtgrenze
Die Londoner Citymaut soll kein Vorbild mehr sein für den Rest der Nation.
AFP/JUSTIN TALLIS

Sunaks Appell an die Wählerschaft bestehe aus einem Paradox, scherzt das konservative Magazin "Spectator" mit Galgenhumor: "Nur die Torys können das Durcheinander beseitigen, das die Torys angerichtet haben – also Tory wählen!" Kaum weniger düster sieht Paul Goodman von der einflussreichen Website "Conservative Home" die Lage seiner Partei. Unter Johnson und Truss hätten die Konservativen ihren Ruf für Kompetenz verloren, "den Kern ihres Wählerappeals". Auch Sunaks Aussichten würden von den Buchmachern als kaum existent beurteilt. Da gebe es nur einen Ausweg: sich als "Change"-Kandidaten zu präsentieren. "Aber kann er das wirklich?"

Von der Beantwortung dieser bangen Frage wird abhängen, ob das konservative Fußvolk wie von der Führung erhofft geschlossen und mit Elan in den 2024 anstehenden Wahlkampf zieht.

Frauen in Lauerstellung

Vorsichtshalber laufen sich in Manchester schon einmal die Kandidatinnen für die Nachfolge bereit. Gehandelt werden ausschließlich Frauen, von der neulich beim Fluchen erwischten Bildungsministerin Gillian Keegan über die harten Rechten Kemi Badenoch (Wirtschaft) und Suella Braverman (Inneres) bis hin zu Liz Truss.

Die offenbar pathologisch von Selbstzweifeln unangekränkelte Ex-Regierungschefin propagiert wie in ihrer Amtszeit vor Jahresfrist, als das Königreich knapp an einer Finanzkrise vorbeischlitterte, unverdrossen Steuersenkungen – und findet damit Widerhall in der Fraktion. Rund 30 Torys vom rechten Flügel haben öffentlich mitgeteilt, sie würden "weitere Steuererhöhungen" nicht mittragen. Da aber Finanzminister Jeremy Hunt diese gar nicht plant, ist in Wirklichkeit gemeint: Steuersenkungen müssten her, als Wohltat vor der Wahl, egal ob die Haushaltslage das rechtfertigt oder nicht.

Geschlossenheit sieht anders aus. Auf brillante Weise hat Karikaturist Nick Newman den Zustand der Regierungspartei zusammengefaßt. In Newmans Zeichnung für die "Sunday Times" erläutert ein Mann seiner Frau, was es mit der TV-Berichterstattung vom Tory-Parteitag auf sich hat: "Es handelt sich um einen Werbespot für die Labour Party." (Sebastian Borger aus London, 1.10.2023)