Drei Premierministerinnen hat es gegeben, je eine Parlamentspräsidentin für Ober- und Unterhaus, von der Königin ganz zu schweigen. Als Wächterinnen für die dritte Säule der Gewaltenteilung nahmen Frauen als Justizministerinnen und Chefanklägerinnen im Kabinett Platz, sogar der Supreme Court hatte bereits eine Vorsitzende. Den Chefposten der Aufsicht über sämtliche Richter und Richterinnen in England und Wales aber hat in den vergangenen knapp 800 Jahren stets ein Mann innegehabt. Nun ist auch der Lord Chief Justice im 21. Jahrhundert angekommen: Seit Monatsbeginn bekleidet Sue Carr den ehrwürdigen Posten.

Sue Carr in ihrem neuen Posten als
Sue Carr in ihrem neuen Posten als "Lady Chief Justice", hier mit Justizminister Alex Chalk.
IMAGO/Tayfun Salci

Der erstmals im Fernsehen übertragenen feierlichen Einführungszeremonie waren monatelange Spekulationen vorangegangen: Wie würde die 59-Jährige zukünftig anzusprechen sein? Schließlich taucht der je nach Zählung 789 oder 755 Jahre alte Titel in unzähligen rechtlichen Dokumenten auf, weshalb die – überwiegend männlichen – Traditionalisten gewichtig mit den Köpfen schüttelten: Da komme eine Änderung des Titels natürlich keinesfalls infrage. Prompt erfolgte Carrs offizielle Ernennung durch König Charles III. im Juni für den Posten des "Lord Chief Justice".

Mit Energie und Enthusiasmus

Schon damals beschwichtigte der konservative Justizminister Alexander Chalk alle Spötter, für den Titel werde sich gewiss eine einvernehmliche Lösung finden lassen. Zudem gab es einen Präzedenzfall, weil in Nordirland schon seit vorvergangenem Jahr eine Frau der dortigen Richterschaft vorsteht. Und so gelobte Sue Lascelles Carr zu Wochenbeginn vor Hunderten von Spitzenjuristen aus dem ganzen Land, sie werde ihr Amt als Lady Chief Justice nach bestem Wissen und Gewissen versehen. Sie sei sich des großen Privilegs bewusst, das die Rolle mit sich bringt, teilte Lady Carr mit: "Ich gehe die Aufgabe mit Energie und Enthusiasmus an."

Beides kann die Richterin am Appellationsgericht, wo sie auch zukünftig wichtigen Verfahren präsidieren wird, gut gebrauchen. Ihre Rolle umfasst nicht nur die Interessenvertretung der Richterschaft bei König, Parlament und Regierung sowie die wichtigsten Berufungen für den High Court und die obersten Kriminal- und Zivilgerichte. Sie ist auch für Fortbildung und Wohlergehen sämtlicher Laien und Profis zuständig, die im Namen Seiner Majestät in Magistrats- und Krongerichten Recht sprechen.

Befürworterin von Mädchenschulen

Dass mit ihrer Berufung der lange Prozess der Gleichstellung von Männern und Frauen in der Justiz noch lang nicht abgeschlossen ist, braucht man der neuen Chefin nicht erst zu sagen. Der Law Society zufolge wird es noch mindestens eine Dekade dauern, bis die Richter- und Richterinnenbänke annähernd den Bevölkerungsanteil von Männern und Frauen widerspiegeln. Derzeit sind 35 Prozent aller Richter weiblich. Dazu hat Carr ihren Teil beigetragen: Junge Frauen als Mentorin zu betreuen bezeichnet sie als einen wichtigen Aspekt ihrer Tätigkeit. Ausdrücklich befürwortet sie auch separate Mädchenschulen: "Da können Mädchen glänzen, ohne Geschlechterstereotypen zum Opfer zu fallen."

Carr stammt aus einer Unternehmerfamilie, studierte Jura in Cambridge und machte Karriere als Kronanwältin mit dem Schwerpunkt Handelsrecht. Die weltweite Verbreitung englischen Rechts gab ihr die schöne Gelegenheit, eine Zeitlang als Anwältin vor australischen Gerichten aufzutreten. Der Berufung zur Richterin in Kriminalfällen folgte rasch der Aufstieg zu High Court und Appeal Court. In ihrer Freizeit ist die fließend Deutsch und Französisch sprechende verheiratete Mutter dreier Kinder begeisterte Chorsängerin.

Personal- und Finanznöte

Harmonisch wird es freilich in ihrer neuen Aufgabe nicht immer zugehen für die Lady Chief Justice, dafür sorgen schon die Personal- und Finanznöte in der Justiz. So müssen beispielsweise Opfer von Vergewaltigungen bis zu drei Jahre auf den Prozess gegen ihre Peiniger warten, Verfahren wegen Eigentums- und Drogenkriminalität werden häufig wegen Fristversäumnissen eingestellt, die mangelnde Digitalisierung kreiert ungeheure Papierberge. Gleichzeitig will die schwächelnde konservative Regierung Stärke zeigen, indem sie immer höhere Mindeststrafen für immer mehr Straftaten festlegt und damit den Richterinnen den Ermessensspielraum beschneidet. Der 98. Inhaberin des Postens als Chief Justice wird die Arbeit in den kommenden vier Jahren nicht ausgehen. (Sebastian Borger aus London, 3.10.2023)