Bulgariens Premier Nikolaj Denkov.
Bulgariens Premier spricht vom Kampf gegen die Zukunft des Balkans.
AP

Nach Jahren der Instabilität hat Bulgarien seit Juni wieder eine gewählte Regierung, eine Art große Koalition. Der liberale Premier Nikolaj Denkov will vor allem die Justiz vom politischen Einfluss befreien und sein Land in die Schengenzone führen. Die Niederlande und Österreich müssten dafür aber ihr Veto aufheben.

STANDARD: Welche Reformen machen Sie, um die Justiz unabhängiger zu machen und damit die niederländische Regierung ihr Veto gegen den Schengen-Beitritt Bulgariens aufgibt?

Denkov: Wir machen die Reformen ausschließlich, weil wir das Justizsystem in Bulgarien verbessern wollen, also nicht, um den einen oder anderen zufriedenzustellen. Vergangene Woche haben wir bereits im Parlament das Antikorruptionsgesetz verbessert. Zweitens geht es darum, die Kontrolle über den Generalstaatsanwalt zu erhöhen und zu verbessern. Wegen dieser Schwäche kam es zu mehreren Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs gegen Bulgarien. Drittens geht es um die Zusammensetzung und die Verfahren zur Wahl von Justizangehörigen. Bisher war es relativ einfach, sie politisch zu beeinflussen, die Änderungen nun sollen den politischen Einfluss auf die Richter so weit wie möglich reduzieren. Einige dieser Reformen erfordern Verfassungsänderungen, und damit wollen wir bis Ende des Jahres fertig sein.

STANDARD: Derzeit besteht eine gute Zusammenarbeit zwischen ihrer Partei "Wir setzen den Wandel fort" mit der Gerb-Partei. Es ist allerdings mit Widerstand zu rechnen, wenn die alten Netzwerke der Gerb angetastet werden. Was muss die Regierung erledigen, damit Sie zufrieden sind?

Denkov: Wenn uns diese Änderungen in der Verfassung und den Gesetzen gelingen, wäre das bereits eine beachtliche Errungenschaft. Alle Parteien, die Teil der Koalition sind, unterstützen das. Bis jetzt läuft also alles nach der Agenda, die am Beginn der Regierungszusammenarbeit entworfen wurde. Und ich sehe keine Anzeichen dafür, dass jemand damit aufhören möchte.

STANDARD: Erwarten Sie, dass die Niederlande ihr Veto aufgeben, wenn die Justizreform bis zum EU-Gipfel am 6. Dezember umgesetzt wird?

Denkov: Ich kann nicht im Namen von anderen sprechen, aber die Niederlande haben sich immer auf das bulgarische Justizsystem konzentriert und die Änderungen der Schwachpunkte klar definiert, die sie sehen wollen. Es geht dabei auch darum, den Empfehlungen der EU-Kommission nachzukommen. Genau das tun wir, und deshalb erwarte ich eine sehr positive Bestätigung durch die EU-Kommission. Und dann werden die Niederlande überhaupt kein Argument mehr gegen den Beitritt Bulgariens zur Schengenzone haben. Wenn wir die Argumente entkräften können, sehe ich nicht, wie die Niederlande oder Österreich ihren Widerstand gegen den Beitritt Bulgariens verteidigen könnten.

STANDARD: Wie wollen Sie die österreichische Regierung überzeugen? Sie hat argumentiert, dass es zu viel Migration Richtung Mitteleuropa gibt.

Denkov: Wir sind sehr aktiv bei der Grenzkontrolle. Allein in diesem Jahr haben wir rund 150.000 Versuche, die Grenze illegal zu überqueren, gestoppt. Außerdem arbeiten wir sehr aktiv gegen die Schlepper – es ist ein internationales Netz. Mehr als 2.000 illegale Migranten wurden in Bulgarien festgenommen, sonst wären sie irgendwo anders in Europa. Den Statistiken zufolge kommen außerdem weniger als zwei Prozent der Migranten über den sogenannten Ostweg durch Bulgarien oder Rumänien.

STANDARD: Die österreichische Regierung hat trotzdem das Veto eingelegt.

Denkov: Wir sind überzeugt, dass Österreich erheblich davon profitieren wird, wenn Bulgarien und Rumänien im Schengen-Raum sind. Denn es gibt zurzeit eine absolut unnötige Grenzkontrolle zwischen Bulgarien und Griechenland und zwischen Bulgarien und Rumänien. Obwohl es keine nennenswerten Übertritte gibt, patrouillieren dort 1.500 Beamte, die andernfalls an die bulgarisch-türkische und die bulgarisch-serbische Grenze verlegt werden könnten. Österreich hat als erster EU-Staat gefordert, die Außengrenze stärker zu kontrollieren. Wenn Bulgarien und Rumänien innerhalb von Schengen sind, könnte man das viel effizienter tun. Die Konzentration auf die Binnengrenzen trägt jedenfalls nicht dazu bei, die Außengrenzen so gut wie möglich zu schützen. Wir sind auch bereit, Patrouillen aus Österreich, Deutschland und den Niederlanden einzuladen. Jeder ist herzlich eingeladen, sich anzuschauen, wie wir die Grenze schützen, und uns sogar zu beraten. Außerdem sollten mehr Investitionen in Technik und technische Hilfe an den Außengrenzen getätigt werden.

STANDARD: Welche wirtschaftlichen Konsequenzen hat das Schengen-Veto Österreichs?

Denkov: Alle europäischen Länder, auch Bulgarien und Österreich haben mit hoher Inflation und hohen Lebensmittelpreisen zu kämpfen. An der Grenze zwischen Bulgarien und Rumänien und Rumänien und Ungarn bleiben Lebensmittel mehrere Tage stecken, weil wir uns nicht im Schengen-Raum befinden, und das kostet Geld. Die Aufhebung dieser künstlichen Grenzen würde die Transportkosten senken und damit den Preis der Lebensmittel und die Inflation reduzieren. Es gibt einen bedeutenden Export von Lebensmitteln aus Bulgarien über Rumänien in westlichere EU-Staaten. Die Luftverschmutzung durch die Lkws, die an den Grenzen warten, ist auch ein Thema. Österreich ist auch einer der wichtigsten Investoren in Bulgarien. Die österreichische Wirtschaftskammer will das weiter ausbauen, aber der Umstand, dass wir nicht im Schengen-Raum sind, bereitet den Unternehmen einige Schwierigkeiten. Ein Beitritt Bulgariens zum Schengenraum würde auch die Integration des Westbalkans unterstützen.

STANDARD: Wie das?

Denkov: Die jetzige bulgarische Regierung ist sehr proeuropäisch. Wir wollen, dass das so bleibt. Und wir wollen unsere internen Probleme lösen, aber auch als gleichberechtigter Partner der anderen westlichen Länder anerkannt werden. Wir haben in Bulgarien aber eine sehr starke Opposition, die etwas anderes will und nach Osten blickt. Wenn wir unsere Hausaufgaben machen und trotzdem nicht dem Schengen-Raum und der Eurozone beitreten können, würde die Opposition sagen: "Was immer vom Westen empfohlen wird, er sieht uns nicht als gleichwertig an." Das würde nicht nur der Kreml-freundlichen Opposition hier, sondern auch den ähnlichen Kräften in Nordmazedonien und in Serbien nutzen. All dies zeigt, dass es einen größeren sehr wichtigen Kampf um die europäische Zukunft des Balkans gibt.

STANDARD: Österreich ist zu einem hohen Ausmaß abhängig vom russischen Gas. Durch Bulgarien, Richtung Serbien, wird gerade eine Gaspipeline für nichtrussisches Gas gebaut, es kommt aus Griechenland. Könnte Österreich auch davon profitieren, um sich vom russischen Gas unabhängiger zu machen?

Denkov: Ja, denn mit dem Gas aus Griechenland gibt es Optionen für eine deutliche Kapazitätssteigerung. Wir würden gerne mit Österreich besprechen, wie sehr es an einem solchen Transport interessiert wäre und wie es die Zukunft dieser Gastransportsysteme in den nächsten Jahren sieht.

STANDARD: Nordmazedonien muss aufgrund einer Forderung Bulgariens die bulgarische Volksgruppe in die Verfassung aufnehmen, damit es mit den EU-Verhandlungen beginnen kann. Es kann sein, dass es dafür nicht ausreichend Stimmen im mazedonischen Parlament gibt. Wie können Sie Nordmazedonien helfen, damit es endlich mit den EU-Verhandlungen beginnen kann?

Denkov: Es wäre sehr einfach, die Debatte zwischen den Gesellschaften und zwischen den Politikern eskalieren zu lassen. Das vermeiden wir jedoch. Wenn die Nordmazedonier Europäer sein wollen, müssen sie jedoch tun, was mit der EU-Kommission vereinbart wurde. Wir haben uns auch, weil wir proeuropäisch sein wollen, mit unserem wichtigsten politischen Rivalen in einer Regierung zusammengetan. Ich glaube nicht, dass das unmöglich ist, aber wenn das Hauptinteresse darin besteht, für Wahlergebnisse zu kämpfen, dann geht das natürlich nicht.

STANDARD: Der frühere bulgarische Premier Kiril Petkov meinte, dass die schlechten Beziehungen zwischen Nordmazedonien und Bulgarien auf den Einfluss Russlands zurückzuführen sind. Gibt es so einen Einfluss auch auf dem Westbalkan? Eine serbische Miliz hat kürzlich einen Terroranschlag gegen die kosovarische Polizei durchgeführt.

Denkov: Die Situation zwischen Kosovo und Serbien erinnert mich an ein über 100 Jahre altes Sprichwort, dass der Balkan selbst wie ein Pulverfass wirke. Jeder Vorfall kann viel bedeutsamere Folgen haben. Daher sollten wir wirklich äußerst vorsichtig sein.

STANDARD: Es gibt auch das Sprichwort: "Was auf dem Balkan beginnt, bleibt nicht nur auf dem Balkan."

Denkov: Das hat eine sehr ähnliche Bedeutung. Das liegt daran, dass mehrere Mächte versuchen, ihren Einfluss auf dem Balkan auszuweiten. Wir liegen hier am Scheideweg zwischen Kleinasien und Russland und den Kräften Europas. Wir müssen deshalb sehr stark in unseren Werten sein. Wenn man sich nicht an die europäischen Prinzipien, die Rechtsstaatlichkeit und das Völkerrecht im Sinne der Vereinten Nationen hält, dann können neuerlich Kriege beginnen. Die einzige Möglichkeit, dies zu verhindern, besteht darin, die Erfahrungen zu nutzen, die die westeuropäischen Länder der Welt gezeigt haben. Wenn Frieden und Kooperation zwischen Frankreich und Deutschland möglich ist, kann es überall möglich sein, aber wir müssen uns an diese Regeln halten, die wir haben.

STANDARD: Was soll man tun, wenn sich ein Staat nicht an die Regeln hält?

Denkov: Dann sollte dieses Land von den anderen isoliert werden. Das sehen wir am Beispiel Russlands. Es ist ganz klar, dass Russland der Aggressor ist. Die Ukraine verteidigt ihr Volk. Der Ukraine geht es nicht nur um Territorium, es geht um Familien, Kinder und alles, was dort zerstört wird.

STANDARD: Sollten man Sanktionen gegen Serbien verhängen?

Denkov: Serbien versucht, auf mehreren Stühlen zu sitzen. Aber jeder weiß, dass das nicht allzu lange andauern kann. Wenn es prorussisch sein will, dann soll es das definieren, wenn es proeuropäisch sein will, wäre dies eine weitere Option. Serbien muss das entscheiden.

STANDARD: Zurück zum Aggressionskrieg Russlands. In Bulgarien wurde eine Drohne gefunden. Was werden Sie tun, um Bulgarien vor der russischen Aggression zu schützen und gleichzeitig Solidarität mit der Ukraine zu zeigen?

Denkov: Es liegt im tiefen Interesse Bulgariens, der Ukraine zu helfen, um den Krieg so weit wie möglich von den Grenzen Bulgariens fernzuhalten. Es besteht also kein Widerspruch zwischen diesen beiden Dingen, wie dies die russische Propaganda versucht zu suggerieren. Wir arbeiten bereits intensiv an der Verbesserung unseres Verteidigungssystems, unserer Armee, einschließlich des Küstenschutzes. Wir bauen derzeit an Militärschiffen, die sehr bald im Schwarzen Meer unterwegs sein werden. Es geht auch um Anti-Raketen-Systeme, wir haben F-16-Abfangjäger bestellt, und wir befinden uns in der Endphase der Erstellung eines Vertrags für fast 200 gepanzerte Militärfahrzeuge. Für die Bodentruppen bauen wir sehr schnell alle notwendigen Elemente auf, die bisher viele Jahre aufgeschoben wurden. Wir arbeiten hart mit unseren Nachbarn zusammen, etwa mit Rumänien und der Türkei. Polen soll vollständig in das Verteidigungssystem an der Ostflanke integriert werden, dessen Teil wir sind.

STANDARD: Von Russland geht nicht nur eine militärische Bedrohung aus, im Rahmen der hybriden Kriegsführung wird Propaganda betrieben. Der Kreml hat auch Einfluss beim bulgarischen Geheimdienst, und es gibt sehr viele russische Spione hier. Welche Maßnahmen werden Sie gegen diese hybride Kriegsführung des Kremls ergreifen?

Denkov: Die Kreml-Propaganda ist hier aus historischen und kulturellen Gründen sehr stark. Was wir tun können, ist vor allem, immer die Wahrheit zu sagen. Wir brauchen das Vertrauen der Menschen, und deshalb müssen wir die richtigen Argumente verwenden. Leider ist das aber nicht genug. Denn die Leute werden leicht misstrauisch, weil sie viele, viele, viele Jahre lang belogen wurden. Die hybride Propaganda beruht auf Emotionen, damit die Leute nicht auf Argumente hören. Das tun sie dann nicht, wenn sie vor etwas Angst haben oder wenn sie aufgeregt sind. Deshalb müssen wir hier unsere Kommunikationsfähigkeiten verbessern. Was die Spione betrifft, so mussten wir vergangenes Jahr 70 von ihnen ausweisen.

Dieses Jahr hatten wir ein spezielles Problem mit drei Priestern aus der sogenannten russischen Kirche in Bulgarien. Es stellte sich tatsächlich heraus, dass sie sehr aktiv gegen die Interessen Bulgariens und Nordmazedoniens arbeiteten. Mit einigen Geheimdiensten arbeite ich sehr, sehr gut zusammen. Aber was wir sehen, ist, dass es bei anderen so etwas wie einen blinden Fleck gibt, wenn es um Korruption und um russischen Einfluss geht. Wir diskutieren noch immer mit den Chefs der anderen Koalitionsparteien, ob wir das Gesetz über die Geheimdienste ändern müssen. Einiges würde die Zustimmung des Präsidenten erfordern, aber von ihm gibt es den stärksten Widerstand. Ich habe immer versucht, mit dem Präsidenten (Rumen Radev, Anm. der Red.) zusammenzuarbeiten, aber leider sehe ich von seiner Seite keine Bereitschaft dazu.

STANDARD: Die notwendige Schließung der Kohlekraftwerke wird von den Kreml-Kräften in Bulgarien sehr häufig genutzt, um die Öffentlichkeit zu manipulieren. Sie haben kürzlich einen Plan nach Brüssel geschickt, damit Bulgarien keine weiteren EU-Gelder verliert. Wie wollen Sie die CO2-Emissionen reduzieren?

Denkov: Bei dem Plan, den wir Brüssel vorgelegt haben, geht es nicht um die Reduzierung des Kohlendioxids. Wir hatten vorzuschlagen, wie wir die Investitionen aus europäischen Fonds, aus dem Staatshaushalt und von privaten Investoren nutzen, um die Region, in der es jetzt Kohlekraftwerke gibt, weiterzuentwickeln. Ich führe Verhandlungen mit den Gewerkschaften, damit sie verstehen, was in dem Papier geschrieben steht. Diese Leute arbeiten aber heute gegen ihre eigenen Interessen. Deshalb versuchen wir als Regierung, ihnen bei der Entwicklung ihrer Region zu helfen, aber sie verstehen das nicht.

STANDARD: Bulgarien muss aber trotzdem den CO2-Ausstoß reduzieren.

Denkov: Schritt für Schritt wird die Produktion in den Kohlekraftwerken reduziert und der Ausstoss des Kohlendioxids. Diese Veränderung geschieht aber nicht, weil jemand in Brüssel beschlossen hat, diesen oder einen anderen Plan zu machen. Die Veränderung kommt, weil sich der Strommarkt und die Technologien zur Stromerzeugung sehr schnell verändern. Wir brauchen die Kohlenstoffkraftwerke noch für die kommenden Jahre, weil sie einen Energiegrundbedarf absichern. Letztes Jahr waren sie äußerst wichtig. Aber nach und nach wird dieser Bedarf abnehmen, insbesondere wenn wir neue Atomkraftwerksblöcke bauen. Leider sind die Menschen, die von diesen Veränderungen betroffen sind, immer noch nicht bereit, sich zusammenzusetzen, zu diskutieren und zu verstehen, was auf sie zukommt. (Adelheid Wölfl, 3.10.2023)