Die Abkehr von fossiler Energie wurde in der Industrie lange argwöhnisch als Wettbewerbsnachteil betrachtet. Mit der fortschreitenden Erderwärmung und den damit einhergehenden Klimafolgen wird die Bedeutung von Dekarbonisierung aber immer augenscheinlicher, und mehr und mehr Unternehmen verstehen die Klimaneutralität stärker als Chance denn als Gefahr.

Ein Wettlauf der verschiedenen Weltregionen um die Wettbewerbsfähigkeit der Zukunft habe begonnen – so wird die aktuelle Situation im Klimaministerium analysiert. "Wir können gerade beobachten, wie sich gewisse Technologien, wie zum Beispiel die erneuerbaren Energien, global disruptiv durchsetzen", sagt Klimaschutzministerin Leonore Gewessler (Grüne). "Die Märkte der Zukunft sind grüne Produkte, grüne Prozesse und Klimaschutzanwendungen." Damit Österreich und Europa dabei nicht auf der Strecke bleiben, sei ein Schulterschluss von Politik, Wirtschaft und Wissenschaft unabdingbar.

Luftaufnahme Zug
Um nachhaltige Lieferketten zu erreichen ist mehr Transparenz von der Produktion bis zu den Endkunden notwendig.
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Stefan Borgas ist einer jener Unternehmer, mit denen das Klimaministerium im Austausch zur Dekarbonisierung in der Industrie steht, kürzlich etwa beim Europäischen Forum Alpbach. Borgas ist Vorstandsvorsitzender der RHI Magnesita und spricht sich vehement für Klimaschutzmaßnahmen aus. So findet er etwa die Bepreisung von CO2 zu niedrig, um einen tatsächlichen Lenkungseffekt zu entfalten, und generell treibt ihn die Frage an, wie sich aus der "Aufgabe der Dekarbonisierung eine Geschäftschance machen lässt".

Nachhaltige Lieferketten

Um zu verstehen, wie groß die Abhängigkeit der Industrie von fossiler Energie ist, müsse man die Produktions- und Lieferketten in den Blick nehmen. "Die CO2-Kontaminierung, die wir hier bei uns versuchen zu eliminieren, passiert vor allem am Anfang der Wirtschaftskette bei der Erdöl- und Erdgasgewinnung. Je weiter man in Richtung Konsumenten kommt, umso mehr nimmt der CO2-Ausstoß ab", sagt Borgas.

Auch für den Komplexitätsforscher Peter Klimek spielen nachhaltige Lieferketten eine zentrale Rolle bei der Dekarbonisierung der Industrie. "Am Ende des Tages geht es schließlich nicht darum, dass wir Emissionen auf dem Globus hin- und herverschieben", sagt Klimek.

Um die Nachhaltigkeit von Lieferketten bis an ihren Ursprung zurückzuverfolgen, mangle es an Sichtbarkeit, sagt Klimek. Unternehmen würden zwar ihre Zulieferer kennen, manchmal auch deren Zulieferer, aber schließlich verlaufe sich die Spur. Forschende bedienen sich unterschiedlicher Ansätze, um die Sichtbarkeit von Lieferketten darzustellen, genau das ist Kernaufgabe des neuen Forschungsinstituts Supply Chain Intelligence Institute Austria (ASCII), das neben dem Complexity Science Hub auch von der FH Oberösterreich getragen und von Klimek geleitet wird. Durch die Verknüpfung von Außenhandelsdaten, Daten von Nachrichten- und Firmenwebsites und Expertenwissen sowie Steuerdaten könnte man diese dunklen Ecken ausleuchten. Um tatsächlich einen guten Überblick zu bekommen, bräuchte es aber gemeinsame Datenökosysteme, wo sich die Lieferketten eines Produkts nachverfolgen lassen.

Zu den Kosten und Nutzen der Dekarbonisierung betont Borgas, dass das Eliminieren von Emissionen "zunächst eine echte finanzielle Belastung ist". Die Produktionssysteme müssten komplett umgebaut werden, "man braucht völlig neue Energien, Pipelines und andere Energieformen und Technologien, die wir zum Teil noch gar nicht haben". Insgesamt würden sich die Kosten dafür auf "Hunderte von Milliarden" belaufen.

Kosten der grünen Wende

Wenn man diese Dekarbonisierungskosten aber herunterbreche auf einen Kühlschrank oder ein Einfamilienhaus, wären sie überschaubar. "Das bewegt sich im Null-Komma-Prozentbereich", sagt Borgas. Diese optimistische Schätzung begründet er mit einem Rechenbeispiel: Dekarbonisierter Stahl würde um rund 50 Prozent mehr kosten als Stahl aus konventioneller Produktion. Bei einem Einfamilienhaus, das 500.000 Euro kostet, würde die Preissteigerung durch dekarbonisierten Stahl und Zement aber gerade einmal mit 2000 bis maximal 5000 Euro zu Buche schlagen.

"So kann man die Preissteigerung am Ende wieder ertragen", sagt Borgas. Klar sei aber auch, dass es "einzelne Unternehmen geben wird, die den Wandel nicht hinbekommen werden. Auch manche Produkte werden wir nicht mehr produzieren." Andererseits würden aber auch neue Unternehmen mit neuen Produkten entstehen.

"Das, wovor wir stehen, ist eine weitere industrielle Revolution, auch von der Dimension und vom Anspruch", betont auch Gewessler. "Und das in einer Geschwindigkeit bis Mitte des Jahrhunderts, die uns alle fordern wird." Um die Kosten der Transformation abzufedern, wurde ein mit über drei Milliarden Euro dotierter Transformationsfonds eingerichtet. Die erste Ausschreibungsphase läuft aktuell.

Förderungen und Marktanreize

Generell müssten nicht Förderungen, sondern Marktanreize die Umsetzung ankurbeln, sagt Borgas. Gezielte Subventionen seien aber notwendig, um Risiken zu minimieren. Auch Gewessler betont die Bedeutung von gesetzlichen Vorgaben, die Klarheit schaffen, und nennt dabei die Klimaneutralität 2050. "Durch diese Vorgabe ist klar, dass man 2050 in Europa mit fossilen Energien kein Geschäft mehr machen kann", sagt Gewessler.

Bei steigendem Druck auf die Industrie, Klimaschutzmaßnahmen zu setzen, dürfe man auch das Problem Greenwashing nicht aus dem Blick verlieren. "Dabei geht es um mehr als nur ein paar Trittbrettfahrer", sagt Borgas. "Es gibt viele Unternehmen, die behaupten, dass sie Maßnahmen ergreifen, die sie aber nicht ergreifen." Deswegen brauche es ein ordentliches Reporting und Kontrolle. Auch von "windigen Ausgleichsmaßnahmen" hält Borgas wenig, "am Ende müssen wir den CO2-Ausstoß eliminieren, Kilo für Kilo".

Das jetzige System sei für eine "fossile lineare Industrie" gebaut, sagt Gewessler. "Das müssen wir auf allen Ebenen und in den Köpfen in Richtung Kreislaufwirtschaft und Erneuerbare umbauen, und dabei gibt es viele Hürden aus dem Weg zu räumen."

Praxisnahe Empfehlungen

Für Klimek ist die zentrale Frage, "ob es so etwas wie ein nachhaltiges Wachstum überhaupt geben kann". Der Komplexitätsforscher erachtet es als eine "sehr mutige Ansage von der EU-Kommission, dass man sagt, dass der Green Deal die Wachstumsstrategie ist".

Auch Wissenschafter und Wissenschafterinnen stelle das vor neue Herausforderungen, wenn sie evidenzbasierte Empfehlungen für Politik und Wirtschaft formulieren. "Es ist eine Herausforderung in der Wissenschaft, dass wir nicht normativ Ziele vorgeben, sondern uns die Frage stellen, wie man eine Transformation der Industrie erreichen kann und dabei gleichzeitig die Wettbewerbsfähigkeit erhält", sagt Klimek. Auch liege in der Natur jeder Transformation, dass es dabei "Gewinner und Verlierer geben wird".

Um die Nachhaltigkeit von Lieferketten bis zu ihrem Ursprungsort zurückverfolgen zu können, ist die Verknüpfung mehrerer Datensätze notwendig. Bislang mangelt es an Transparenz und Verknüpfungen. (Tanja Traxler, 16.10.2023)