Es handelt sich nicht gerade um das sagenumwobene Atlantis, aber um eine faszinierende untergegangene Stadt im Mittelmeer: Vor der ägyptischen Küste liegen die Überreste von Herakleion, die erst im Jahr 2000 wiederentdeckt wurden. Gut zweihundert Jahre lang war dies die größte Hafenstadt Ägyptens, bis Alexander der Große im Jahr 331 vor Christus in der Nähe die Stadt Alexandria gründete. Dass sie heute sieben Kilometer vor der Küste unter der Wasseroberfläche verborgen ist, hat mehrere Gründe. Der Meeresspiegel stieg im Laufe der Zeit an, das Fundament der Stadt wurde durch Erdbeben und Flutwellen geschwächt. Herakleion, das auch als Thonis bezeichnet wurde, gehörte zu einem rund 110 Quadratkilometer großen Bereich des Nildeltas, der im achten Jahrhundert nach Christus vollständig im Meer versank.

Der französische Forschungstaucher Franck Goddio und das von ihm gegründete Europäische Institut für Unterwasserarchäologie (IEASM) entdeckten 2000 die untergegangene Stadt und zeigten, dass es sich bei der griechischen Stadt Herakleion (nicht zu verwechseln mit der gleichnamigen größten Stadt von Kreta) und dem ägyptischen Thonis um dieselbe Stadt handelte. Nun ist das Forschungsteam in einer gemeinsamen Mission mit der Abteilung für Unterwasserarchäologie des ägyptischen Ministeriums für Tourismus und Altertümer auf weitere bemerkenswerte Fundstücke gestoßen, wie die IEASM in einer Pressemitteilung bekanntgab.

Ein Taucher saugt Material mit einem blauen Schlauch ab, aus der Erde kommt die weiße, steinerne Hand einer Skulptur hervor
Eine Votivhand im Sediment, datiert auf Ende des fünften, Anfang des vierten Jahrhunderts vor Christus. Sie stammt vermutlich aus Zypern und wurde als symbolisches Opfer an einer Kultstätte dargebracht.
Christoph Gerigk ©Franck Goddio/Hilti Foundation

Die Unterwasserarchäologen, die in Herakleion vor zwei Jahren Reste einer Galeere untersuchten, hatten sich diesmal den Südkanal der Stadt vorgenommen. Zum Einsatz kamen neue Prospektionsmethoden, mit denen die Fachleute Objekte und Hohlräume aufspüren können, auch wenn diese unter mehreren Metern Ton verborgen liegen.

Ein Taucher in rotem Anzug mit Unterwassertaschenlampe schwimmt über massive Säulen.
Blöcke des Amun-Tempels, die in den Südkanal von Thonis-Herakleion gestürzt sind.
Christoph Gerigk ©Franck Goddio/Hilti Foundation

Die hier gezeigten Tempelreste wurden unter einer drei Meter dicken, harten Lehmschicht entdeckt. Am Südkanal war Mitte des zweiten Jahrhunderts vor Christus bei einem Erdbeben der Amun-Tempel eingestürzt. Amun, "der Verborgene", war im alten Ägypten der Schöpfergott und verlieh den Pharaonen ihre Macht.

Zwei Silberschalen und eine cremefarbene Alabastervase.
Zwei silberne Ritualschalen für Trankopfer für die Götter und ein Alabasterbehälter für Salben und Parfums, fünftes Jahrhundert vor Christus.
Christoph Gerigk ©Franck Goddio/Hilti Foundation

Das Team stieß auf die Schatzkammer des eingestürzten Tempels, die etliche wertvolle Gegenstände bereithielt. Dazu gehören zwei Ritualschalen für Trankopfer, die aus Silber gefertigt waren – einem damals äußerst kostbaren Material. Auch zerbrechliche Alabastergefäße gehörten zu den Schätzen, in ihnen wurden Parfums und Salben aufbewahrt.

Vier verschiedene polierte Goldschätze, die geborgen wurden, und ein blaues Fundstück
Goldgegenstände und ein Djed-Pfeiler aus Lapislazuli, fünftes Jahrhundert vor Christus.
Christoph Gerigk ©Franck Goddio/Hilti Foundation

Zu den besonders schönen Fundstücken aus dem Amun-Tempel gehören eine Reihe an Goldobjekten und ein aus dem Edelstein Lapislazuli gefertigter Djed-Pfeiler. Dieses Symbol findet sich auch in der Hieroglyphenschrift und versinnbildlicht Beständigkeit. Die entdeckten Reichtümer zeigen nicht nur, dass die Bewohnerinnen und Bewohner der Stadt ihrem Götterglauben durch wertvolle Gaben Ausdruck verliehen, sondern zeugen ganz allgemein von wohlhabenden Bürgerinnen und Bürgern.

Ein Taucher deutet unter Wasser auf alte Holzbalken. 
Unterirdische Holzstrukturen.
Christoph Gerigk ©Franck Goddio/Hilti Foundation

Noch unter dem Amun-Tempel fanden die Forschungstaucher Holzstrukturen, die sehr gut erhalten sind und aus dem fünften Jahrhundert v. Chr. stammen.

Keramik liegt zwischen Muschelschalen auf dem Meeresgrund, im Vordergrund sieht man eine blau-weiße Keramik in Vogelgestalt und einen runden, orange-schwarz bemalten Schild.
Keramik und Bronzeobjekte zeugen von griechischem Handel.
Christoph Gerigk ©Franck Goddio/Hilti Foundation

Neben dem Amun-Tempel stieß das Team auf ein weiteres Heiligtum: Dieses war der griechischen Göttin der Schönheit und Liebe, Aphrodite, geweiht. Die dort entdeckten importierten Gegenstände aus Keramik und Bronze belegen, dass Griechen während der pharaonischen Saïte-Dynastie (664 v. Chr. bis 525 v. Chr.) in Thonis-Herakleion Handel betrieben und für ihre Götter Tempel errichteten. Dazu gehörte auch ein zierlicher Ausgießer aus Bronze, der wie eine Ente geformt ist. Auch griechische Waffen wurden gefunden, da griechische Söldner den Zugang zum Königreich verteidigten, heißt es in der Aussendung. "Es ist sehr bewegend, solch empfindliche Gegenstände zu entdecken, die trotz der Gewalt und des Ausmaßes der Naturkatastrophe unversehrt geblieben sind", wird Franck Goddio, der die Ausgrabungen leitete, zitiert. (red, 9.10.2023)