Oksana Havryliv
Oksana Havryliv am Wiener Donaukanal: Schimpfkultur in Graffitiform.
Heribert Corn

"Schleich di, du Oaschloch!" Die Beschimpfung, die ein Wiener dem Terroristen nach dem Anschlag vom 2. November 2020 hinterherrief, wurde gefeiert und zum Spruch des Jahres gekürt. Bezeichnend für Oksana Havryliv, denn das zeige, wie positiv eine an sich vulgäre Beleidigung aufgenommen werden könne, und bestätige, wie sehr Schimpfwörter essenzieller Teil unseres alltäglichen Sprachgebrauchs seien. Über ihre Schimpfforschung hat die Sprachwissenschafterin nun ein Buch veröffentlicht.

STANDARD: "Nur ein Depp würde dieses Buch nicht kaufen" heißt die Zusammenfassung Ihrer 30-jährigen Arbeit auf dem Gebiet der Schimpfforschung. In welche Kategorie fällt denn diese Art der Beschimpfung?

Havryliv: Das ist eine bedingte Beschimpfung. Sie funktioniert ähnlich wie die häufigere Form der bedingten Drohung, mit der wir eine Person zu einer Tat bewegen wollen, also zum Beispiel "Schleich dich, sonst leg ich dir eine auf". Im Buchtitel finden sich schon ein paar der vielen Funktionen von Schimpfwörtern: Er ist scherzhaft gemeint, soll aber auch motivieren – das Buch zu kaufen – und natürlich in ausdrucksstarker Weise hervorheben, dass es sich wirklich lohnt. Es schwingt aber auch eine selbstdarstellende Funktion mit: Wenn die Autorin schon Schimpfwörter erforscht, möchte sie damit auch im Buchtitel angeben.

STANDARD: Sie haben herausgefunden, dass nur ein Drittel der Beschimpfungen direkt ausgeteilt wird, der Rest erfolgt hinterrücks oder in Gedanken. Was sagt denn das aus?

Havryliv: Ich konnte fast 20 Funktionen des Schimpfens finden. Die wichtigste ist die kathartische Funktion, also das Abreagieren von negativen Emotionen. Wir spüren alle, dass es befreiend ist. Hinter den meisten Beschimpfungen, Flüchen und Verwünschungen steckt nicht die Absicht, jemanden direkt zu beleidigen oder zu kränken. So wie bei der korporativen Funktion. Wenn ich sage: "Unser Chef ist ein Idiot", will ich ihn nicht beleidigen, sondern Zusammenhalt signalisieren. Zugleich reagieren wir unseren Frust ab, das schweißt zusammen und tröstet.

STANDARD: Jetzt haben wir schon ein paar Evergreens unter den Schimpfwörtern gehört. Was fällt den Menschen denn am häufigsten in der Wut ein?

Havryliv: Trottel, Arschloch, Vollidiot, Depp, Sau, Wichser gehören zu den Top Ten. "Scheiße" als Fluch ist auch unschlagbar. Da gab es in den letzten 20 Jahren kaum Veränderung.

STANDARD: Gerade auf Kinder üben Schimpfwörter eine magische Anziehungskraft aus. Was ist daran so faszinierend?

Havryliv: Das hängt damit zusammen, dass Schimpfwörter neben der begrifflichen eine emotionale Bedeutung haben, und die lernen Kinder oft als Erstes kennen, ohne zu wissen, was das Wort bedeutet. Das Kind kommt vom Kindergarten nach Hause, sagt "Arschloch" und sieht die Reaktion der Eltern, spürt die Kraft des Wortes. Kinder lassen mit Schimpfwörtern nicht nur Dampf ab, sie provozieren und wollen Aufmerksamkeit erregen.

STANDARD: Unter Jugendlichen gibt es aber sehr wohl Modeschimpfwörter, oder?

Havryliv: Ja, hier gibt es eine ausgeprägte Dynamik. "Scheiße" hat sich abgenutzt, dafür hat "Fick dich" enorm an Popularität gewonnen. In den letzten Jahren ist "AMK", eine Abkürzung für das türkische "amina koyim", zum neuen "WTF / What the fuck" geworden. Interessanterweise ist das nicht Kindern aus anderen Kulturen zu verdanken, sondern Youtube und Tiktok. Es heißt wörtlich übersetzt: "Ich setz es in deine Vagina", aber wird als Verstärkung oder im Sinne von "Ich mach dich fertig" gebraucht. Bei einer Umfrage, die meine Studierenden Anfang 2023 durchgeführt haben, tauchten wieder neue Wörter auf. Die Namen von Pornodarstellern, Johnny Sins und Lana Rhoades, waren unter den häufigsten Schimpfwörtern.

STANDARD: Auffällig ist, dass viele Beschimpfungen wie zum Beispiel "Opfer" oder "behindert" ganz lapidar verwendet werden.

Havryliv: Das ist ein Beispiel dafür, dass es gar nicht um die wörtliche Bedeutung geht und es deshalb nicht als so beleidigend wahrgenommen wird. Macht man Kinder aber darauf aufmerksam, dass das indirekt eine Beleidigung für die betreffenden Menschen ist, verabschieden sich viele schrittweise davon. Generell gilt für Schimpfwörter, dass sie meistens situationsgebunden sind und missgedeutet werden können – besonders wenn es um verbale Aggression geht.

STANDARD: Warum drängt denn das Obszöne so sehr an die Öffentlichkeit, an Hauswände und Plakate genauso wie in sozialen Medien?

Havryliv: In meinen Studien hat sich gezeigt, dass es vielen leichter fällt, Schimpfwörter aufzuschreiben, am besten anonym. So lässt sich ganz leicht Aufmerksamkeit generieren. Wir beobachten in letzter Zeit eine Tendenz zu sprachlicher Verrohung, Schimpfwörter gelangen zunehmend auch über die Massenmedien, und nicht nur über die Boulevardpresse, in die Öffentlichkeit. Wenn sogar der Wiener Dompfarrer Toni Faber sagt: "Der Kirche geht’s beschissen", dann hat sich da schon einiges verändert.

STANDARD: Was zeichnet denn die österreichische Schimpfkultur aus? Es scheint da ja ein gewisses Faible zu geben, wenn man an Mozarts Fäkaltiraden denkt oder an kreative Beschimpfungen von Werner Schwab, Thomas Bernhard oder Wolf Haas.

Havryliv: Das österreichische Deutsch ist ein gutes Beispiel für die fäkal-anale Schimpfkultur, im Gegensatz zum angloamerikanischen Raum oder auch zum Balkan, wo sexualitätsbezogene Wörter vorherrschen. Im bayerisch-österreichischen Sprachraum, wo ähnlich wie in Italien und Spanien der Einfluss der katholischen Kirche traditionell groß ist, gibt es noch eine sakrale Schimpfkultur mit vielen gotteslästerlichen Flüchen. Beim Schimpfen wird gegen Tabus verstoßen, die Schimpfkultur hängt also auch mit den Problemzonen der jeweiligen Gesellschaft zusammen. Im deutschsprachigen Raum etwa spielt Ordnung und Sauberkeit eine große Rolle, der Tabubruch liegt daher in den "schmutzigen" Wörtern. In traditionell prüden Ländern wie Russland hat "Ich ficke deine Mutter" aber nichts Vulgäres, man sagt es einfach zur Bekräftigung, so wie im Polnischen oder Ukrainischen "Deine Mutter ist eine Hure". Das hat selbst meine Mutter im Ärger ausgerufen, im Sinne von "Verdammt noch mal!".

Buchcover
Oksana Havryliv, "Nur ein Depp würde dieses Buch nicht kaufen. Wirklich alles über das Schimpfen, Beschimpfen, Fluchen und Verwünschen". € 22,– / 224 Seiten. Komplettmedia, 2023
Komplett-Media Verlag

STANDARD: Was sind denn Ihre persönlichen Lieblingsbeschimpfungen?

Havryliv: "Du kannst mich gernhaben", eine euphemistische Form aus dem Wienerischen, ist ein Favorit von mir. Aber auch im Wienerischen verwendete Verwünschungen, die vom Jiddischen beeinflusst sind, mag ich sehr. Zum Beispiel: "Du sollst Krätze am Arsch bekommen und zu kurze Hände zum Kratzen."

STANDARD: Sie haben sich im Zuge des russischen Angriffs auf die Ukraine auch mit der Sprache im Krieg auseinandergesetzt. Inwieweit spielen Schimpfwörter da eine Rolle?

Havryliv: Die Widerstandsfunktion von Schimpfwörtern kommt hier zum Tragen. Der Spruch "Russisches Kriegsschiff, fick dich", den ein ukrainischer Soldat bei der Verteidigung der Schlangeninsel gerufen hatte, wurde berühmt. Ich habe seit Kriegsbeginn Material dazu gesammelt. Die Schimpfforschung ist und bleibt ein lebendiges Thema. (Karin Krichmayr, 8.10.2023)