Ralf Rangnick macht sich schon sehr lange Gedanken über die Entwicklung des Fußballs und hat maßgeblich zur Veränderung beigetragen.
APA/GEORG HOCHMUTH

Wir befinden uns im Jahr 1984. Ganz Fußballdeutschland ist von der Idee der Manndeckung besessen. Außenstürmer kleben an der Outlinie, Verteidiger an ihren Gegnern. "Wenn es sein muss, folgst du ihm bis aufs Klo." – Den Spruch kennt jeder Abwehrspieler. Wadlbeißermentalität ist gefordert – und funktioniert. Der größte Fußballverband der Welt verfügt über eine enorme Breite an Talenten und in der Spitze über hochbegabte Spieler, die taktische Defizite kompensieren. Laufbereitschaft, Kampf und Abschlussstärke gelten als typisch deutsche Tugenden und als Erfolgsrezepte. Mögen andere Länder andere Systeme praktizieren, Stichwort Raumdeckung. In Deutschland würde das nicht funktionieren. Da sind sich alle einig.

Alle? In einigen Dörfern in der württembergischen Provinz wird an Alterna­tiven gebastelt. Am unteren Ende der Ligapyramide werden neue Systeme entwickelt – in Geislingen, Backnang und Kirchheim unter Teck. Helmut Groß gilt als Motor dieser Modernisierung. Der hauptberufliche Brückenbauingenieur ist in seiner Freizeit Amateurtrainer und Mitglied des Trainerstabs des Württembergischen Fußballverbands. Groß trainiert den SC Geislingen, mit dem er Alternativen zur Manndeckung testet. Aber heimlich. Schon beim Begriff "Raumdeckung" würde sich Widerstand regen. Groß bittet die Spieler, die Trainingsinhalte nicht öffentlich zu besprechen. Bei den Lehrgangstreffen des Verbands tauscht er sich nur mit Insidern aus.

Besonders gut versteht er sich mit einem jungen Absolventen: Ralf Rangnick. Groß sagt, der Ralf sei am neugierigsten und stelle die besten Fragen. Darum ist es auch der Spielertrainer von Viktoria Backnang, der vom Verband angefragt wird, als es gilt, einen Gegner für ein Freundschaftsspiel gegen Dynamo Kiew zu finden. Das sowjetische Topteam mit Trainer Waleri Lobanowski hat im Jänner 1984 sein Trainingslager in Ruit aufgeschlagen. Dort, vor den Toren Stuttgarts, befindet sich die Sportschule des Württembergischen Verbands. Viktoria Backnang wird Sparringpartner für Dynamo.

Initialzündung

Zehn Minuten nach Spielbeginn zählt Spielertrainer Rangnick nach. Spielt Kiew mit elf Mann, oder sind das etwa mehr? Egal, wo der Ball hinkommt, Dynamo ist in Überzahl. Rangnick kann es kaum fassen. Ständig zwei oder drei Spieler in Ballnähe – wie machen die das? Um das Rätsel zu entschlüsseln, treffen sich Rangnick und Groß fortan täglich in der Sportschule. Sie analysieren die Methoden, mit denen Lobanowski trainiert. Waldläufe gehören nicht dazu. Alle Übungsformen drehen sich um den Ball. Die Dynamo­-Spieler sind keineswegs fitter als andere, aber sie trainieren ein anderes System.

Lobanowski lässt Pressing spielen. Die Abwehr verschiebt ballorientiert, andere Mannschaftsteile auch. Dynamo schiebt nicht nur zur Seite, sondern auch nach vorn. Beim Studium der Trainingsformen stoßen Groß und Rangnick auf ein Hindernis: Lobanowski sagt nichts. Überhaupt nichts. Die Kommandos kommen ausschließlich von den Co-Trainern. Lobanowski schaut zu – und schweigt. Englisch kann er sowieso nicht, und kein Württemberger Trainer spricht Russisch. Groß und Rangnick können nur beobachten. Ihr Ziel: Sie wollen einen Leitfaden entwickeln, um Trainern beizubringen, wie man Ballorientierung in der Gruppe trainiert.

Die beiden wissen, dass neue Theorien nur dann funktionieren, wenn sie in der Praxis erfolgreicher sind als die alten. Groß demonstriert es beim VfL Kirchheim/Teck, mit dem er in die drittklassige Oberliga Baden-Württemberg aufsteigt. Ralf Rangnick quittiert den Dienst bei den VfB Stuttgart Amateuren, um die neuen Prinzipien ungestört zu entwickeln. Dafür geht er in den Amateurfußball, zuerst zum TSV Lippoldsweiler, dann zum Landesligisten SC Korb. Nach der Hinrunde stellt er auf Ballorientierung um. Die Zuschauer sind über die vielen freien Gegenspieler entsetzt, aber der Erfolg stellt sich rasch ein. Der SC Korb verliert in der Rückrunde nur zwei Spiele und steigt souverän auf. "Wenn es mit Amateuren geht, funktioniert es mit jeder Mannschaft", muss sich Rangnick denken. Er sucht den Weg zurück in den großen Fußball. Der Jugendkoordinator beim VfB Stuttgart heißt inzwischen Helmut Groß, er holt Rangnick zurück an den Neckar.

Durchbruch

Wir befinden uns im Jahr 1990. Das manndeckende Deutschland wird Weltmeister. Reformer haben schlechte Karten, zumal die Umstellung auf Pressing und Überzahlspiel nicht von heute auf morgen geht. In dieser Zeit lernt Rangnick, dass es mehr braucht als neue Trainingsformen für eine Mannschaft. Notwendig ist die Überzeugung aller Trainer, jedes Spielers und des ganzen Vereins. Am besten trainiert man bereits die Jugend nach denselben Spielprinzipien, die in der Kampfmannschaft gefordert sind. Übrigens auch Fitness. Damals sind alle von Rangnick trainierten Teams fitter als ihre Gegner. Sie gewinnen ihre Spiele häufig in der zweiten Halbzeit. Sie stechen dann zu, wenn die Gegner zu müde sind, um die systembedingten Schwächen mit Laufarbeit zu kompensieren.

Der VfB Stuttgart wird unter dem Einfluss von Koordinator Groß und Trainer Rangnick viermal in Serie deutscher A-Jugend-Meister – von 1988 bis 1991. Doch an Beförderung ist nicht zu denken. 1992 werden die Profis ebenfalls Meister, unter Christoph Daum. Helmut Groß zieht sich zurück in den Verband, um dort an den Spielprinzipien weiterzufeilen. Rangnick wechselt zum SSV Reutlingen und bald danach zum SSV Ulm. Mitte der 1990er Jahre gewinnt der Württembergische Verband reihenweise die Länderpokalturniere, bei denen Jugendmannschaften der Regionalverbände gegeneinander antreten. Inzwischen ist der Leitfaden zur Trainerausbildung fertiggestellt. Er enthält alle Spielprinzipien und die dafür nötigen Trainingsformen.

Doch außerhalb von Württemberg bleibt das Interesse überschaubar. Bis im Jahr 2000 die deutsche Nationalmannschaft bei der EM in der Vorrunde scheitert. Plötzlich sind Reformer heiß begehrt. Trainer mit württembergischer Vorbildung haben einen beträchtlichen Vorsprung. Ralf Rangnick sowieso. Mit Helmut Groß wird er in Verbindung bleiben. Der Mentor bleibt im Hintergrund – zu Hause in Kirchheim unter Teck. (Bernd Sautter, 11.10.2023)

Ballesterer
Ballesterer
Der nigelnagelneue Ballesterer
Cover: Ballesterer