Pfählung Relief Gewalt
Darstellung einer Pfählung auf einem rund 2.700 Jahre altenassyrischen Relief aus Ninive. Zwischenmenschliche Gewalt nahm laut einer neuen Studie in dieser Zeit wieder zu.
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"Der Rückgang der Gewalt dürfte die bedeutsamste und am wenigsten gewürdigte Entwicklung in der Geschichte unserer Spezies sein." Das schreibt der Evolutionspsychologe Stephen Pinker auf Seite 1027 seines über 1.200 Seiten starken Standardwerks "Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit" aus dem Jahr 2011. In Zeiten zweier Angriffskriege, gegen die Ukraine und jüngst gegen Israel, muten diese Zeilen sehr unzeitgemäß an.

Aber zumindest bis vor kurzem hielten Pinkers sehr langfristige Analysen, die von frühen Jäger-und-Sammler-Kulturen bis in die Gegenwart reichen. Verglichen mit den Unmenschlichkeiten, die früher üblich waren und meist in aller Öffentlichkeit verübt wurden, ist ein Rückgang von Gewalt aber unübersehbar. Im Hauptteil seiner Tour de Force durch die Geschichte bewegt sich Pinker auf den Spuren des deutschen Soziologen Norbert Elias, der in seinem Klassiker "Über den Prozess der Zivilisation" (1939) den Rückgang der physischen Gewalt und anderer Formen forcierter Körperlichkeit (u. a. Sexualität, Nacktheit oder Tischsitten) vom Mittelalter bis in die Neuzeit (grob: vom 9. bis ins 19. Jahrhundert) unter anderem anhand von Manierenbüchern nachzeichnete.

Gründe für den Gewaltrückgang

Laut Pinkers Berechnungen ging durch diesen Zivilisierungsprozess die Anzahl der Morde in Europa auf ein Dreißigstel zurück. (Mordhauptstadt war im Mittelalter für eine Zeitlang Oxford, wie Forschende der Uni Cambridge kürzlich herausgefunden haben wollen.) Als Gründe nennt Pinker vor allem die Einrichtung von Nationalstaaten samt ihrem Gewaltmonopol, den Handel, eine "Verweiblichung" der Gesellschaft, Kosmopolitismus und die Durchsetzung von Vernunftprinzipien.

Wie aber war das vor dem Mittelalter und vor allem in vorhistorischen Zeiten mit der zwischenmenschlichen Gewalt wie Körperverletzungen, Morden, Sklaverei, Folter, grausamen Bestrafungen oder gewalttätigen Fehden? Hier werden auch Pinkers Analysen einigermaßen spekulativ, da für die vorhistorische Zeit keine schriftlichen Quellen vorlagen.

Ein Forschertrio um Giacomo Benati (Universität Barcelona) umschiffte dieses Problem, indem es konkrete Überreste von Gewalttätigkeiten untersuchte. Für ihre Studie, die am Montag im Fachblatt "Nature Human Behaviour" erschien, analysierten sie die Skelettresten von insgesamt 3.539 Personen aus dem Zeitraum 12.000 bis 400 vor unserer Zeitrechnung. Diese Menschen lebten in sieben Ländern des Nahen und Mittleren Ostens von der Westtürkei bis in den Ostiran – konkret: Türkei, Irak, Iran, Syrien, Libanon, Israel und Jordanien.

Höhepunkt in der Kupferzeit

Das Team um Benati bewertete das Ausmaß der zwischenmenschlichen Gewalt, indem es den Anteil der Skelette untersuchte, die Anzeichen von Schädeltraumata oder waffenbedingten Wunden aufwiesen. Laut diesen Analysen, die auf statistischen Auswertungen und Vergleichen mit den jeweiligen Bevölkerungsgrößen beruhen, erreichte die zwischenmenschliche Gewalt während der Kupfer(stein)zeit (also 4.500 bis 3.300 Jahre vor unserer Zeitrechnung) ihren Höhepunkt. Zur Orientierung: Am Ende dieser Zeit, also vor rund 5.300, lebte auch Ötzi. Danach ging die Gewalt laut der neuen Studie während der frühen und mittleren Bronzezeit (3.300 bis 1.500 vor unserer Zeitrechnung) zurück, bevor sie in der späten Bronzezeit und der frühen Eisenzeit – also vor 3.500 bis 2.400 Jahren – wieder zunahm.

Was aber waren die Gründe für diese vermuteten Fluktuationen von Gewalt? Die Wissenschafter vermuten, dass die Zunahme der Brutalität in der Kupfer(stein)zeit mit den ersten zentralisierten Protostaaten und dem Übergang von gelegentlichen Fehden zu organisierten Konflikten in großem Maßstab zusammenfällt. Die frühe Eisenzeit wiederum war durch eine 300-jährigen Dürre, durch die Zunahme der Bevölkerung und gleichzeitigen Ressourcenstress geprägt. Das dürften die entscheidenden Faktoren für die neuerlichen Zunahme der Gewalttaten gespielt haben. Wenn das stimmt, dann sind das keine allzu guten Aussichten für unsere planetare Zukunft. (tasch, 11.10.2023)