Nach dem Selbstmordanschlag der PKK am 1. Oktober dieses Jahres auf das Generaldirektorat des türkischen Innenministeriums in Ankara, bei dem lediglich die beiden von der PKK als "Brigade der Unsterblichen" verherrlichten Attentäter ums Leben kamen, begann die Türkei nicht nur mit Angriffen auf die PKK im Irak, sondern am 5. Oktober auch mit massiven Luftangriffen auf Nord- und Ostsyrien.

Ein Bild vom 9. Oktober 2023 zeigt die Schäden an der Aliyan-Ölanlage am Stadtrand von Rumaylan in der kurdisch kontrollierten nordöstlichen Provinz Hasakeh in Syrien.
Die türkischen Angriffe treffen nicht nur Ölanlagen wie auf diesem Bild. Sie töten auch Zivilistinnen und Zivilisten in Nord- und Ostsyrien.
AFP/DELIL SOULEIMAN

Bundeskanzler Nehammer besucht Kriegsherrn Erdoğan

Schon vor den Angriffen der Hamas auf Israel fanden diese türkischen Angriffe so gut wie gar keine Beachtung in europäischen Medien. Im Gegensatz zu den abscheulichen Angriffen der Hamas auf zivile Ziele in Israel äußerten sich auch keine relevanten europäischen Politiker mit Kritik an den Angriffen auf Zivilistinnen und Zivilisten in Syrien. Im Gegenteil: Mitten während der Angriffe auf Syrien besuchte der österreichische Bundeskanzler Nehammer am Dienstag, dem 10. Oktober den türkischen Präsidenten Erdoğan. Medienberichten zufolge wurde dabei zwar über Israel gesprochen, aber weder hörte man etwas über die engen Beziehungen der türkischen Regierungspartei mit der Hamas und Hamas-Unterstützer Katar noch darüber, dass der österreichische Kanzler irgendein kritisches Wort über die türkischen Angriffe auf Rojava verloren hätte.

Die außenpolitische Sprecherin der Grünen, Ewa Ernst-Dziedzic, bei ihrem zweiten Besuch in Rojava 2022.
Thomas Schmidinger

Kritik an Nehammers Besuch kam dabei von der außenpolitischen Sprecherin des grünen Koalitionspartners, Ewa Ernst-Dziedzic: "Wir müssen in Österreich, in Europa, als Weltgemeinschaft eine sofortige Einstellung der Angriffe seitens der Türkei fordern", erklärte die Abgeordnete, die selbst schon zweimal die Region besucht hat. "Es muss bewusst sein, dass es dort in der Region die akute Gefahr gibt, dass der IS erstarkt. Wir können es uns nicht leisten, dass eine weitere Terrororganisation sich hier entfalten kann."

Türkische Angriffe auf Nord- und Ostsyrien

Auch wenn die Türkei, die schon seit 2018 die kurdische Region Afrin und seit 2019 die kurdisch dominierte Stadt Serê Kaniyê (arabisch: Ra's al-'Ain) besetzt hält, bisher keinen erneute Angriff mit Bodentruppen startete, so ist die Zwischenbilanz türkischer Luftangriffe nach einer Woche katastrophal. Die Türkei setzte diesmal auf die systematische Zerstörung ziviler Infrastruktur und bombardierte Elektrizitätswerke, Getreidesilos, die Öl-, Gas- und Wasserversorgung. Mittlerweile sind sämtliche Städte des von den Syrischen Demokratischen Kräften verwalteten Gebiets ohne Wasser- und Stromversorgung. Benzin, Öl und Gas sind kaum mehr zu bekommen, und wenn, dann nur für extrem hohe Schwarzmarktpreise. Mehrere Tausend Tonnen Getreide wurden vernichtet. Der Großteil der gesamten Ernte des heurigen Jahres ist vernichtet, und damit droht für den Winter erstmals eine wirkliche Hungersnot in der Region. Laut dem Außenminister der Autonomen Administration Nord- und Ostsyriens, Badran Chia Kurd, wurden bis zum 10. Oktober insgesamt 48 Schulen durch die Angriffe teils schwer beschädigt. Tausende Kinder könnten so derzeit nicht unterrichtet werden.

Die Leidtragenden der türkischen Angriffe sind die Zivilistinnen und Zivilisten in den nordostsyrischen Städten.
Thomas Schmidinger

Die türkischen Angriffe führen in Syrien zu Wut und Verzweiflung. Allerdings wird von vielen auch die PKK kritisiert, die mit dem Anschlag in Ankara der Türkei einen Grund oder auch Vorwand für die Angriffe geliefert hat. Auch viele eingefleischte Unterstützerinnen und Unterstützer der PKK können die Logik hinter diesem Selbstmordanschlag, der sich ausschließlich kontraproduktiv ausgewirkt hat, nicht nachvollziehen.

Angriffe auch in Idlib

Nicht weniger verzweifelt ist die Lage der Zivilistinnen und Zivilisten im Nordwesten Syriens. In von der von jihadistischen Milizen der Hayat Tahrir ash-Sham kontrollierten Provinz Idlib griffen ebenfalls am 5. Oktober die syrische Regierung und die mit ihr verbündete russische Luftwaffe zivile Ziele an. Dabei wurden elf Zivilistinnen und Zivilisten, darunter auch ein zwei Jahre altes Kind, getötet.

Zermürbung statt Bodeninvasion

Die Angriffe der Türkei auf Nordostsyrien konzentrieren sich auf die kurdisch besiedelten Gebiete zwischen Amude und der irakischen Grenze, um die Stadt Kobanê, die 2014 zum Symbol des Widerstands gegen den "Islamischen Staat" wurde, und um die traditionell christlich-assyrischen Gebiete um Tal Tamr. Insgesamt wurden bei den Angriffen mindestens 40 Kämpferinnen und Kämpfer der Syrischen Demokratischen Kräfte und der Polizei (Asyaish) sowie sechs Zivilistinnen und Zivilisten getötet.

Auch jene, die die Angriffe überleben, sind allerdings vielfach traumatisiert. Die Luftangriffe auf die zivile Infrastruktur verliefen vielfach sehr nahe an dichtbesiedelten Städten. Eine junge Frau aus Amude berichtet von permanent schreienden Kindern, die nachts nicht mehr schlafen können und in ständiger Angst vor den türkischen Drohnen und Raketen zittern. Dieser psychologische Effekt der Angriffe ist nicht zu unterschätzen.

Dass die Türkei bisher nicht mit Bodentruppen weitere Gebiete besetzen konnte, liegt wohl vor allem an den in Hasaka stationierten US-Truppen, die anders als 2019 kein grünes Licht zur weiteren Besetzung der Region gegeben haben. Die demokratische Regierung Joe Bidens verfolgt hier eine konsistentere Politik als sein Vorgänger Trump. Trotzdem wird die Zerstörung der zivilen Infrastruktur wirken. Die Zivilbevölkerung ist zunehmend zermürbt und verzweifelt. Wer mit Zivilistinnen und Zivilisten in der Region in Kontakt ist, erhält immer mehr verzweifelte Anfragen, wie man denn nach Europa kommen könne. Die über zwei Millionen Bewohnerinnen und Bewohner der Region, Kurdinnen und Kurden, Araberinnen und Araber, verschiedene neuaramäischsprachige Christinnen und Christen, Armenierinnen und Armenier sowie Angehörige anderer Minderheiten sitzen zunehmend auf gepackten Koffern.

Die Türkei erzeugt damit jene Flüchtlinge, die sie gegenüber Europa vorgibt an der Weiterreise nach Europa zu hindern. (Thomas Schmidinger, 13.10.2023)