Andrej Blatnik
Soziologische und politische Betrachtungen: Andrej Blatnik.
Borut Krajnc

Krone, Reichsmark, Dinar, D-Mark, Tolar, schlussendlich der Euro. Mit den Währungen ändern sich auch die Namen von Straßen und Plätzen in Ljubljana. 1821 bis zum Ende das ersten Jugoslawien vom Kapuziner- zum Kongressplatz, nach 1945 vom Platz der Revolution zu einem der Befreiung, seit 1991 wieder Kongressplatz. Die Transformationen der Namensgebung einer zentralen Örtlichkeit in Sloweniens Hauptstadt spiegeln die Umbrüche und Umordnungen Europas von den Kriegen Napoleons bis zum Fall der Berliner Mauer, vom Zerfall der jugoslawischen Union bis zum Eintritt in die Europäische, als deren Musterschüler Slowenien seit seiner Aufnahme in die Währungsunion gehandelt wird.

1988, man geht noch über den Platz der Befreiung, ebendort beginnt Andrej Blatniks gleichnamiger Roman. Dessen namenloser Protagonist, ein von Zweifeln und Selbstzweifeln getriebenes Alter Ego seines Autors, findet sich zu einer über klandestine Kanäle annoncierten Demonstration für vier Mitarbeiter der Zeitschrift Mladina ein, die wegen Geheimnisverrats von einem Militärgericht verurteilt wurden, unter ihnen der spätere Rechtspopulist Janez Janša.

Verhängnisvoller Tritt

Während die Organisatoren des Protestes noch zweifeln, ob sie sich mit der Wahl des Platzes nicht doch übernommen hätten, füllen sich Platz und Nebenstraßen zur Massenkundgebung. Blatniks Protagonist, wie sein Autor Gitarrist einer erfolglosen Punkband, wünscht sich selbst auf die Bühne und tritt unabsichtlich einer jungen Frau auf die wildlederbeschuhten Zehen.

Der Fehltritt wird zum Auftakt einer esoterisch-platonisch grundierten Lovestory, die drei Jahrzehnte und bei langen Unterbrechungen nur selten leibhaftige Körperlichkeit zulässt, aber der Erzählung einen dauerhaften Rahmen für soziologische und politische Betrachtungen gibt. Romeo und Julia, postsozialistisch, neoliberal, nonletal: sie yogagetrimmt auf der Suche nach dem Seelenheil durch indische Aschrams, er vom Literaturkritiker zum Werbetexter auf der harten Tour aus dem Selbstverwaltungssozialismus in die Ära des unter Selbstoptimierungszwang stehenden Einzelunternehmers.

Während sich die Tochter aus der Funktionärselite ihre Asientrips von den Eltern subventionieren lässt, gelingt es dem Sohn eines Bauern, der im Sozialismus in höhere Bildungssphären aufsteigen konnte, aber sich mit der Nomenklatura nicht arrangieren wollte, seine schlechtbezahlten Jobs durch die Möglichkeit, ab und an als Literaturkritiker in Erscheinung zu treten, imageträchtig zu camouflieren.

Gedämpftes Begehren

Über drei Jahrzehnte begegnet sich Blatniks Figurenpaar gedämpft einander begehrend in verschiedenen Lebensphasen in den Straßen Ljubljanas, zieht diskursive Pirouetten über die Plätze der Stadt und berührt sich auf dünnem Existenzeis. Während sich die Begehrte in subtilen Andeutungen durch den Text hantelt, übt sich der postmoderne Romeo in konkreter Rede und bringt sein Zweitdenken kursiviert zum Ausdruck.

Blatnik konturiert sein fiktives Personal in schillernden Vignetten unter Einbeziehung von Kohorten realer Existenzen aus dem historischen und zeitgenössischen Kultur- und Politikbetrieb Sloweniens, was dem Erzählfluss so manch pikanten Unterstrom beifügt. Ehemalige Punkgrößen mutieren zu esoterischen Eselszüchtern, führerscheinlose Weltphilosophen äußern sich während nächtlicher Stadtfahrten vom Rücksitz aus zur Semiotik nationalsozialistischer Symbolik einer den deutschen Hauptstadtnamen propagierenden Band – und auch das Heldenpersonal der Sozialistischen Föderation Jugoslawien bekommt sein Fett weg.

Buchcover
Andrej Blatnik, "Platz der Befreiung". Aus dem Slowenischen von Klaus Detlef Olof. € 25,– / 240 Seiten. Folio-Verlag, Wien und Bozen 2023

Staat und System

Über die Frage des Glücks reflektiert Blatniks Protagonist als zombiehafter Mitläufer seiner selbst gleich bei seinem Eintritt in den Mahlstrom der Erzählung auf der ersten Seite: "Glück kann dem Menschen weder der Staat noch das System, noch eine politische Partei geben." Aber das ist, wie die Vignette vom Glück in der Mitte des Buches zum Vorschein bringt, nur ein verkürztes Zitat aus einer Rede von Titos Chefideologen Edvard Kardelj.

Weiters erfährt man vom "Guru der Entwicklungslinien des Systems der sozialistischen Selbstverwaltung", dass der Mensch am freiesten auf der Grundlage des gesellschaftlichen Eigentums an den Produktionsmitteln wäre, um frei zu arbeiten und sein Glück zu schaffen. Volkes Stimme erinnere aber daran, kommentiert Blatnik die Gedankenspiele seines Helden, "dass sie schon lange warne, wie flüchtig das Glück ist, die Ersten werden die Letzten sein und umgekehrt".

Dass erbeutete Arbeit nicht nur unter neoliberalen Verhältnissen, sondern auch in sozialistischen Systemen existiert, bringt Blatnik mit einem Tito-Witz in Erinnerung: "Und Volkes Stimme erzählte auch Witze darüber, wie der Führer des Volkes eine Eisenhütte besucht und den Arbeitern bei der Herstellung von Eisenmuffen zusieht. Wie viele davon schaffen Sie in einer Stunde?, fragt er (...) einen von ihnen. Als er die Anzahl erfährt, blickt er abschätzig. Ich würde drei Mal mehr schaffen, sagt er. Das schon, gibt der Arbeiter zu, aber Sie sind Schlosser und ich bin Professor für Politologie." (Walter Famler, 14.10.2023)