Der Mensch Ingeborg Bachmann interessiert sehr, die Autorin nicht genug.
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Am 17. Oktober 1973 starb Ingeborg Bachmann im Krankenhaus Sant’Eugenio in Rom, wo sie seit fast zehn Jahren gelebt hatte. Einlieferungsgrund war ein Brandunfall in ihrer Wohnung, Todesursache wohl eher Entzugserscheinungen aufgrund ihrer starken Tablettenabhängigkeit. Sie war erst 47 und hinterließ nicht nur unveröffentlichte Gedichte, sondern vor allem zahlreiche Entwürfe und Vorarbeiten zu mehreren Romanen des geplanten "Todesarten"-Projekts – veröffentlicht worden war davon 1971 bei Suhrkamp nur der erste Band, Malina.

Bachmann als Diva

50 Jahre ist Bachmanns früher Tod nun her. Die Welt hat sich in der Zwischenzeit verändert, wenn auch nicht unbedingt zu ihrem Besten. In Vergessenheit geraten ist Ingeborg Bachmann in diesem halben Jahrhundert nicht: Sie gilt als eine der bedeutendsten deutschsprachigen Schriftstellerinnen, seit 1977 wird in Klagenfurt alljährlich zu Ehren der 1926 ebendort Geborenen der Ingeborg-Bachmann-Preis verliehen.

Am Wiener Volkstheater hatte erst Anfang September Claudia Bauers Bühnenversion von Malina Premiere. Und im heurigen Berlinale-Wettbewerb war Margarethe von Trottas Ingeborg Bachmann – Reise in die Wüste zu sehen, der in diesen Tagen auf die Leinwände kommt. Vicky Krieps und Ronald Zehrfeld geben das legendäre, tragisch scheiternde Liebespaar Ingeborg Bachmann / Max Frisch, und die Verfilmung zeigt prototypisch, was an "der" Bachmann noch heute so interessiert: ihre divenhafte Selbstinszenierung und ihre schicken Kostüme. Ihre Liebesbeziehungen und Affären mit prominenten Männern wie Frisch, Hans Weigel, Paul Celan oder Hans Magnus Enzensberger. Ihr seelisches Leiden, der Alkohol- und Tablettenmissbrauch, mutmaßliche Exzesse und sexuelle Grenzüberschreitungen. Als gäbe es über eine der größten österreichischen Autorinnen der Gegenwart nichts Wichtigeres zu sagen oder zu wissen. Als wäre sie nicht auch jener nahbare Mensch gewesen, an den sich ihr Bruder Heinz in seinem unlängst bei Piper erschienenen Band Ingeborg Bachmann, meine Schwester erinnert: Eine Frau, die gerne wandert und schwimmt, Tee trinkt und versucht, mit dem Rauchen aufzuhören.

Neue Ausgaben

Deutlich weniger als das Leben der Bachmann scheint jedenfalls ihr Werk zu interessieren. Auch angesichts der aktuellen Malina-Inszenierung (in der sie gleich mehrfach als kettenrauchende Bob-Trägerin auftaucht) wurde gerne wieder erwähnt, dass der Roman zwar bekannt, aber halt auch schwierig und kaum gelesen sei. Dabei hätte er, wie das restliche Werk, auch heutigen Leserinnen und Lesern einiges zu sagen. Zumal mit der Salzburger Bachmann-Edition (Piper/Suhrkamp) noch bis 2029 nicht nur bisher gesperrte oder unveröffentlichte Texte aus dem Nachlass (etwas der langerwartete Briefwechsel mit Max Frisch), sondern auch bereits publizierte Werke in neuer Ausgabe herausgegeben werden. Versehen mit ausführlichen Kommentierungen, war das Werk Bachmanns wohl kaum je zugänglicher.

Gegenwartsbezug

Wobei man viele Anknüpfungspunkte an die Gegenwart auch ohne Kommentar unschwer erkennen dürfte: Da wäre das berühmt-berüchtigte Malina, das eben nicht nur, wie gerne behauptet, von einer (wie auch immer gearteten) Liebesgeschichte erzählt. Sondern in erster Linie von Faschismus, kollektiven Traumata und in letzter Konsequenz von einer Art, zu denken und zu sprechen, die auf Ratio, Berechnung und Bewertung basiert, die Nutzbarkeit und Kommensurabilität als höchsten Wert definiert und so letztlich zu Abwertung und Ausgrenzung all dessen führt, was nicht in dieses simple Schema passt – nicht zuletzt von Frauen, von denen ja immer noch manche glauben, sie könnten nicht denken, geschweige denn schreiben. (Wer da jetzt nicht denken kann, lassen wir an dieser Stelle einmal dahingestellt.)

Man könnte das alles wunderbar auch auf die Gegenwart beziehen oder als Denk- und Diskussionsanstoß lesen und sich etwa fragen: Wie wird heute (nicht nur, aber auch von Profipolitikern) mit- und vor allem übereinander geredet? Was wird für wertvoll gehalten in unserer Gesellschaft, als geldwerte "Leistung" gesehen – und was nicht? Nicht, dass es in Malina um Kindergärtnerinnen oder Supermarktkassiererinnen gegangen wäre. Aber, wie es im ebenfalls zum "Todesarten"-Projekt gehörigen BuchFranza so schön heißt: "Das war unser Geist, der da regierte, da war nichts zu machen." Ist nur die Frage, ob da nicht doch etwas zu machen wäre – und wie?

Ein Tal, das zwei Namen hat

Auch was Österreich und den Umgang mit seiner Geschichte, mit dem (abstrakten) und den (konkreten) Fremden betrifft, hat Ingeborg Bachmann Zeitloses hinterlassen. Was über all der kosmopolitisch-glamourösen Biografie, den Stationen in Paris, Berlin, Zürich und zuletzt Rom, oft vergessen wird, sind die Orte, an denen sie aufgewachsen ist. Und hier war, weit mehr noch als der Geburtsort Klagenfurt, der Heimatort des Vaters, Obervellach im Kärntner Gailtal, prägend.

Hier, wo sich Österreich, Italien und Slowenien, aber eben auch germanische, romanische und slawische Sprachen begegnen, "in einem Tal, das zwei Namen hat – einen deutschen und einen slowenischen", verbrachte Ingeborg Bachmann die Ferien ihrer Kindheit. Ein Ort an der Grenze, der eines der zentralen Motive ihres Schreibens begründen wird: das "Haus Österreich". Womit freilich nicht das reale Habsburgerreich gemeint ist. Als Schriftstellerin machte Ingeborg Bachmann daraus ein eigenes, nur in der Sprache existierendes Utopia, ein Reich, das all jene Qualitäten aufweist, die der realen österreichischen Gegenwart abgehen.

Hassliebe

Denn man darf nicht vergessen: Auch als die Autorin längst in Rom lebte und meistens Italienisch sprach – wenn sie etwa an den "Todesarten" arbeitete –, dann hatte sie den Wiener Stadtplan vor Augen, dann rieb sie sich an einer Stadt, an einem Land, mit denen sie eine Hassliebe verband. Und so sehr hat sich Österreich auch nicht verändert, dass man vermuten dürfte, dass eine heute fast hundertjährige Bachmann mit ihrem Heimatland versöhnt gewesen wäre, würde sie denn noch leben.

Das utopische Haus Österreich jedenfalls ist ein "Geisterreich von einer riesigen Ausdehnung", wie es in der Erzählung Drei Wege zum See aus dem Erzählband Simultan heißt, die von Orientierung(slosigkeit) und Heimat im topografischen wie biografischen Sinne erzählt. Die Bewohnerinnen und Bewohner dieses Reiches zeichnen sich zuvorderst durch eine gewisse Empfindsamkeit und Dezenz aus, sie zeigen Würde und Respekt angesichts des Lebens und Leidens anderer. Das Haus Österreich steht für Multikulturalität und Offenheit im besten Sinne, ein Aneinandergrenzen von Menschen, Kulturen und Sprachen; für eine Heimat im eigentlich Heimatlosen, was angesichts des allerorten wieder aufkommenden Chauvinismus eine sehr wohltuende Vorstellung ist.

Böser Humor

Nicht zuletzt ist auch die (deutsche) Sprache immer wiederkehrendes Thema: So möchte Elisabeth, Protagonistin von Drei Wege zum See und als Fotojournalistin weit gereist, sich "Wachs in die Ohren stopfen, um nicht so beleidigt zu werden, stundenlang, in einem Zug in Österreich", weil sie dort "jedes Wort so versteht, bis in die Wurzel, jeden Mißbrauch, jede Fälschung, jede Vulgarität". Sage noch jemand, die Bachmann habe keinen (bösen) Humor gehabt.

In der erwähnten Erzählung wird auch von einem Prozess in Heidelberg berichtet, bei dem zwei österreichische Nazis freigesprochen werden. Begründung? Sie erschienen "harmloser" als die Deutschen, "aus einem Operettenland eben, das mit allen seinen Operettenfiguren ein Opfer geworden war". Letzte Zweifel an ihrem hintergründigen Witz dürfte die wenig bekannte Erzählung Besichtigung einer alten Stadt ausräumen, die ursprünglich Teil von Malina war, dann aber separat veröffentlicht wurde. Das Ich und Malina machen hier eine Tour mit dem Austrobus. Die jüngere Geschichte spart der Fremdenführer darin konsequent aus, dafür hat er Bizarres zu berichten: Ein Anarchist habe "Frau Romy Schneider getötet", "und auch im Prater blühen wieder die Bäume, der Kronprinz Rudolf lernt Madame Catherine Deneuve kennen, die gottlob im AUSTROBUS jeder kennt". Was soll man sagen: Willkommen in der Kulturnation Österreich.

Suchender Blick

Wer daran auch heute noch manchmal verzweifelt (und wer täte das nicht?), kommt an dieser Autorin nicht vorbei. Zumal sie nicht nur böse und nach wie vor schmerzhaft zutreffende Diagnosen stellte, sondern auch Hoffnung gab – wenn auch eine nur im Denken, in der Sprache realisierbare: Die "drei Wege" führen in der gleichnamigen Erzählung nicht zum (Wörther-)See, weil sie allesamt falsch kartografiert sind. Aber tröstlich heißt es: "Auf dem Höhenweg 1 kam sie wieder zur Zillhöhe mit den Bänken, und sie setzte sich einen Moment, schaute kurz auf den See hinunter, aber dann hinüber zu den Karawanken und weit darüber hinaus, nach Krain, Slowenien, Kroatien, Bosnien, sie suchte wieder eine nicht mehr existierende Welt."

Diesen suchenden Blick meinte Bachmann vermutlich, als sie in einem Interview sagte: "Und eines Tages wird es kommen. Ja, wahrscheinlich wird es nicht kommen, denn man hat es uns ja immer zerstört, seit so vielen tausend Jahren hat man es immer zerstört. Es wird nicht kommen, und trotzdem glaube ich daran. Denn wenn ich nicht mehr daran glaube, kann ich auch nicht mehr schreiben." (Andrea Heinz, 14.10.2023)