Notizbuch mit Slowenien-Flagge
Slowenien und seine Literatur: Kultur, egal welcher Prägung, finde immer über Grenzen hinweg statt, sagt der Übersetzer Erwin Köstler.
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Das seit 1991 unabhängige Slowenien, das 2004 der EU beitrat, ist ein Land mit einer komplexen, von den Habsburgern und dann Titos Sozialismus geprägten Geschichte, das am Schnittpunkt mehrerer Kultur- und Sprachlinien liegt. Entsprechend vielschichtig ist die Literatur des 2,1-Millionen-Einwohner-Staats und der slowenischsprachigen Minderheiten in Italien und Österreich. Einer der ausgewiesensten Kenner der slowenischen Literatur ist der Übersetzer Erwin Köstler, der seit 1994 die Ivan-Cankar-Werkausgabe in kommentierten Einzelbänden im Drava-Verlag betreut, für den er auch einige Kärntner-slowenische Autoren übersetzte. Zudem ist er Initiator und Herausgeber der Buchreihe Slowenische Bibliothek und Übersetzer von vier Dutzend Büchern aus dem Slowenischen. Ein Gespräch – und eine Spurensuche.

STANDARD: Slowenische Literatur gilt trotz bedeutender Autorinnen und Autoren als Nischenprodukt. Wird der Auftritt in Frankfurt das ändern?

Köstler: Ja, ich kenne das. Obwohl ich bei Nische immer gleich an eine Mauernische denke, in der man irgendeine Heiligenfigur verstauben lässt. Vielleicht sollte man eher von einer peripheren Literatur reden, die mit den Zentren des deutschen Literaturbetriebs im Austausch steht. Das trifft ja irgendwie auch auf die österreichische Literatur zu, die eine Menge international erfolgreicher Autorinnen und Autoren aufzuweisen hat. Aber die Abhängigkeit vom deutschen Buchmarkt ist evident. Literatur aus Slowenien hat sicher noch immer einen Aufholbedarf, weil aus ihr mit einiger Konstanz überhaupt erst seit etwa 40 Jahren übersetzt wird. In den letzten Jahren hat sich aber ungeheuer viel getan, was die im Zuge der Vorbereitungen für den Gastlandauftritt geschaffenen Möglichkeiten des Kontakts und des Austauschs betrifft. Von einigen deutschen Verlagen, die heute Übersetzungen aus dem Slowenischen programmieren, konnte man noch vor sechs oder sieben Jahren hören, dass sich "ein slowenischer Autor" schlecht verkaufe. Heute gehen diese Verlage vielleicht schon in die zweite oder dritte Runde. Man muss sehen, ob sich daraus dauerhafte Kontakte entwickeln. Bei einigen ist das, denke ich, schon passiert.

STANDARD: Haben der Große Österreichische Staatspreis an den Kärntner Slowenen Florian Lipuš, der auf Slowenisch schreibt, und die Bachmannpreise für die in Wien lebende Slowenin Ana Marwan und die Kärntner Slowenin Maja Haderlap, die in beiden Sprachen publizieren, in Österreich etwas bewirkt?

Köstler: Das hat sehr viel bewirkt. Mit Ana Marwan haben wir jetzt sogar eine Autorin, die eine der zentralen Literaturzeitschriften Österreichs ("Literatur und Kritik", Anm.) herausgibt, was auch Auswirkungen auf das Profil der Zeitschrift hat. Was Lipuš betrifft, ist Jochen Jungs Stellungnahme gegen einen Literaturbetrieb, der nur deutschsprachige Autorinnen und Autoren für preiswürdig hält, bekannt. Dass man Lipuš zunächst verhindert hat, zeigt ja, dass die überkommene Vorstellung von einer einsprachigen Nationalliteratur bei aller gegenteiligen Evidenz noch nicht ad acta gelegt wurde. Autoren und Autorinnen wie Lipuš, Haderlap oder Hafner kann man längst nicht mehr in die Minderheitennische verfrachten. Wenn Maja Haderlap in der Staatsoper die Festrede zur Hundertjahrfeier der Republik Österreich halten darf, dann ist das ein deutliches Zeichen dafür, dass das monokulturelle Paradigma der nationalen Selbstrepräsentation der Vergangenheit angehört. Die Rede wurde auf Deutsch gehalten, grundsätzlich hätte es auch Slowenisch sein können, aber es ist schon richtig so. Generell findet Kultur, egal welcher Prägung, nur im lebendigen Austausch von Erfahrungen, Kenntnissen und Ideen über Grenzen hinweg statt, und das müssen nicht immer Sprachgrenzen sein.

STANDARD: In Slowenien erscheinen jährlich 300 Gedichtbände, das ist eine gigantische Zahl. Sagt sie etwas über den Zugang des Landes zur Sprache aus?

Köstler: Ich weiß nicht, ich bin kein Slowene und kann das nicht von innen heraus beurteilen. Es wurde oft gesagt, dass sich "die Slowenen" aus Mangel an politischer Relevanz und Eigenstaatlichkeit als Literaturvolk etabliert hätten und dass sich jeder Zweite irgendwie als Dichter versteht. Das ist natürlich eine kräftige Übertreibung, und man muss sicher nicht jeden Tag einen neuen Lyrikband lesen, um auf dem Laufenden zu bleiben; da gibt es gewisse Klischees in der Selbstrepräsentation. Es stimmt aber, dass die Dichte an guten Lyrikern in Slowenien ungewöhnlich hoch ist. Die kürzlich bei Hanser erschienene Anthologie Mein Nachbar auf der Wolke gibt hier einen guten Einblick. Aber auch in Slowenien macht man mit Lyrik nicht den großen Umsatz. Und die international aufsehenerregenden Publikationen spielen sich nun einmal eher in der Prosa oder im nichtbelletristischen Bereich ab. Ein Autor wie Jančar hat nicht nur im deutschsprachigen Feuilleton seinen Fixplatz, und Žižek ist aus den internationalen Diskursen um die Verfasstheit der Gegenwart sowieso nicht wegzudenken. Meiner Meinung nach finden die für die Wahrnehmung slowenischer Literatur im Ausland wichtigeren Ereignisse deshalb in der Prosa statt, auch weil sie die diskursivere Gattung darstellt. Sie muss den Verlagen gegenüber aber auch triftiger argumentiert werden. Zu sagen, dass jemand verdammt gut schreiben kann, reicht nicht, da muss ein diskursiver Mehrwert dabei sein.

STANDARD: Stichwort Sprache und Identität: Der 8. Februar, der Todestag des Dichters France Prešeren (1800–1849), ist in Slowenien nationaler Feiertag. Sprache scheint in Slowenien als Identitätsgarant eine große Bedeutung zu haben?

Köstler: Ja, weil die Slowenen im 19. Jahrhundert beständig gegen das deutsche Vorurteil der "Geschichtslosigkeit" anzukämpfen hatten und im Clinch mit den österreichischen Institutionen lagen; weil nach dem Ersten Weltkrieg Italien und im Zweiten dann Deutschland ihre Existenzberechtigung infrage stellten; und weil die Sprache auch im titoistischen Jugoslawien ein Alleinstellungsmerkmal war und öffentliche Diskurse über Literatur eine eminente Rolle spielten. Im Zweiten Weltkrieg war Literatur ein ganz wichtiges Mittel des Widerstands, die Partisanen betrieben eigene Druckereien, bei Meetings wurden Gedichte deklamiert. Die Verehrung Prešerens ist natürlich ein Resultat des Nationalismus im 19. Jahrhundert. Schon Ivan Cankar hatte anlässlich der Errichtung des fürchterlich kitschigen Denkmals auf dem zentralen Platz in Ljubljana im Jahr 1905 darüber gespottet, dass sich hier das Laibacher Bürgertum selbst abfeiere, das ansonsten für die Künstler nicht einmal einen gesprungenen Knopf übrig habe. Man muss schon sehen, dass die Sakralisierung von Sprache und Literatur keineswegs mit der sozialen Wirklichkeit korrespondierte.

Erwin Köstler
Erwin Köstler, geb. 1964, ist Übersetzer und freier Literaturwissenschafter. Er wurde u. a. mit dem Österreichischen Staatspreis für literarische Übersetzung und dem Fabjan-Hafner-Preis ausgezeichnet. Er lebt in Wien.
Köstler

STANDARD: Slowenien stellt seinen Gastlandauftritt unter das Motto "Waben der Worte", das ist ein auf den ersten Blick seltsamer Slogan.

Köstler: Ja, das finde ich auch. Aber da mische ich mich nicht ein.

STANDARD: Sie haben den Beruf des Übersetzers während Ihres Studiums ergriffen und haben mittlerweile fast vier Dutzend Bücher aus dem Slowenischen ins Deutsche übersetzt. Was hielt Ihre Faszination für diese Literatur so lange am Leben?

Köstler: Nun, ich habe ja keinen kulturellen Auftrag, slowenische Bücher zu übersetzen. Ich habe immer nur Bücher übersetzt, von denen ich überzeugt war. Der erste Auswahlband mit Wiener Erzählungen von Ivan Cankar, der 1994 beim Drava-Verlag erschien, rief ein derart unerwartetes Echo hervor, dass mich die damalige Verlagsleiterin Helga Mračnikar fragte, ob ich nicht weitermachen möchte. Das war der Anfang, und weil ich über die Jahre die Freiheit genoss, Titel zur Übersetzung vorzuschlagen, und viele davon auch tatsächlich umgesetzt wurden, war es für mich so, als würde ich mit der Arbeit wachsen. Fast ein Vierteljahrhundert lang habe ich beim Drava-Verlag publiziert, Autoren und Autorinnen entdeckt, habe kommentiert und geschrieben und bei Cankar, denke ich, eine Sichtweise auf den Autor gewonnen, die selbst in slowenischen Fachkreisen Wellen geschlagen hat. Ich wurde zu dutzenden wissenschaftlichen Symposien in Slowenien als Vortragender eingeladen, wurde mit Preisen ausgezeichnet, 2018 wirkte ich sogar an einem abendfüllenden Film über Ivan Cankar mit. Irgendwann hatte ich mich freigespielt, meine Arbeit wurde nachgefragt, ich konnte davon leben, that’s it. Mich motiviert nicht die Faszination an der Literatur eines bestimmten Landes, es sind die vielen noch nicht gehörig hervorgehobenen Dinge in der slowenischen Literatur, an denen ich weiterarbeiten möchte. Als Übersetzer und Herausgeber habe ich einen gewissen Hang zu "toten" Autorinnen und Autoren, die nie (oder nie adäquat) bei uns wahrgenommen wurden; da gibt es noch viele Schätze zu heben und jede Menge Kontext aufzuarbeiten. Ein bisschen was in diese Richtung möchte ich schon noch machen, bevor ich den Löffel abgebe.

STANDARD: Was macht für Sie eine gute Übersetzung, einen guten Übersetzer aus? Immerhin handelt sich um einen zwischen Kunst, Handwerk, Wissenschaft und Vermittlung oszillierenden Beruf – oder ist das ein Klischee?

Köstler: Sie haben es eh gesagt: Eine Übersetzung ist mehr als die bloße Übertragung eines Texts aus einer Sprache in eine andere, sie erfordert mehr als linguistische Skills. Vielleicht ist "oszillieren" gar kein so schlechtes Wort, weil es bildhaft vermittelt, dass man als Übersetzer ständig in Bewegung ist. Obwohl ich persönlich eher davon sprechen würde, dass man in allen von Ihnen genannten Bereichen Fähigkeiten entwickeln muss. Noch nicht genannt wurden die sozialen Fähigkeiten, die man benötigt, um ein Projekt anzubahnen. Was die Arbeit am Text betrifft, gilt die denkbar einfachste Antwort: Wir übersetzen keine Zeichen und keine Wörter, sondern Texte, und als Übersetzer muss man wissen, was ein Text braucht, um zu funktionieren. Daraus folgt alles andere. Zwischen den Zeilen spielt sich ungeheuer viel ab. Eine schlechte Übersetzung ist eine, die es zum Beispiel nicht versteht, den Kontext für sich arbeiten zu lassen.

STANDARD: Ein Problem zieht sich seit Jahren durch jede Übersetzerbiografie: die schlechte Bezahlung. Ist Besserung in Sicht?

Köstler: Generell nicht, noch immer ist eine Seite literarischer Übersetzung nur halb so viel wert wie die gleich lange Übersetzung eines simplen Fachtexts. Es gibt aber einen Mustervertrag, der von vielen Verlegern unterstützt und als eine Art Fairnessvereinbarung angesehen wird. Auf der anderen Seite der Skala stehen Verlage, die einem am liebsten noch die Leerzeichen herausrechnen würden oder die einem einreden wollen, dass man ein gutes Werk vollbringt, wenn man auf sein Honorar verzichtet. Man möchte es ja nicht glauben, aber das gibt es.

STANDARD: Sehen Sie Ihren Beruf durch die künstliche Intelligenz bedroht?

Köstler: Akut nicht, auf lange Sicht schon. Wahrscheinlich wird sich, wie ja sonst auch überall, das geschäftliche Interesse gegen das menschliche durchsetzen.

STANDARD: Um wieder auf Slowenien zu kommen: Gastlandauftritte suggerieren, dass es gleichsam eine Nationalliteratur gibt. Kann man sagen, dass die slowenische Literatur durch die geografische Lage des Landes eine Literatur der Übergänge ist?

Köstler: Das ist eine wichtige Frage. Es ist halt so, dass sich die philologischen Disziplinen entlang nationaler Abgrenzungen gebildet haben. Das hat nicht nur mit Identitätsmerkmalen wie Sprache und Kultur zu tun, sondern auch mit den institutionellen Gegebenheiten, die es brauchte, damit sich Literatursysteme überhaupt bilden konnten, und die waren eben auch Gegenstand der nationalen Auseinandersetzung: Dem deutschen Schulverein stand ein slowenischer gegenüber, dem deutschen Theater ein slowenisches usw. Die Sprache war bzw. ist im Zeitalter des Nationalismus nur eines, wenn auch ein sehr mächtiges Mittel der nationalen Differenzierung. Trotzdem beruht die Reduktion der Literatur eines Landes auf eine einzelne Sprache auf einer Illusion, die nie und nirgends den tatsächlichen Gegebenheiten entsprach. In der Wahrnehmung tut sich da heute einiges. Die Grenzen zwischen den Kulturen sind vielfältig und verlaufen nicht entlang von Ländergrenzen. Es sind soziale Grenzen, die innerhalb einer Gesellschaft verlaufen, und noch die eigene Schriftsprache muss von den Dialektsprechern gelernt werden wie eine fremde. Die Literaturen, die in Slowenien und Österreich entstehen, sind polyphon, nicht nur wegen der Sprachminderheiten, mögen sie anerkannt sein oder nicht, sie sind es, weil es in der Praxis nie eine nationalsprachliche Monophonie gab und auch nie geben wird.

STANDARD: Gerade österreichische Verlage wie Hermagoras, Drava, Wieser und auch Johannes Heyn haben sich um die Vermittlung slowenischer Literatur verdient gemacht. Und zwar nachhaltig und hartnäckig. Wie wichtig war das für die slowenische Literatur?

Köstler: Die Arbeit der zweisprachigen Verlage war immens wichtig, sie haben in den 1980er-Jahren ein Übersetzungsprogramm hochgefahren, das eine erhebliche Außenwirkung entfaltet und jahrzehntelang für äußerst interessante Neuentdeckungen (nicht nur aus dem slowenischen Bereich) gesorgt hat. Im Windschatten der zweisprachigen Verlage konnte auch ein Verlag wie Kitab existieren, der ebenfalls auf Übersetzungen aus dem Slowenischen spezialisiert war. Das "slowenische Programm" des Verlags Johannes Heyn ist jüngeren Datums, aber auch bei Heyn handelt es sich um einen Klagenfurter Verlag, der sich mit seiner Edition Meerauge schon länger im regionalliterarischen Bereich umtut. Es wird wichtig sein, in Zukunft auch solche "kleineren" Verlage zu haben, die mit Beständigkeit an der Vermittlung slowenischer Autorinnen und Autoren arbeiten.

STANDARD: Sie übersetzen sowohl "klassische" als auch zeitgenössische slowenische Literatur und Graphic Novels. Gibt es ein Genre, das Ihnen besonders am Herzen liegt?

Köstler: Ich bin eindeutig ein Spezialist für Prosa, habe wohl auch Lyrik übersetzt, würde mich da aber nicht in der vordersten Reihe sehen. Seit 2017 arbeite ich mit dem Verlag Bahoe Books zusammen, bei dem ich acht Bände mit Graphic Novels (siehe Seite A 4 & A5) publiziert habe, und die Arbeit an diesen Dingen macht mir ungeheuer viel Spaß. Sowohl in der Prosa als auch im Comic setze ich mich gern mit historischen, meistens zeitgeschichtlichen Themen auseinander, und es macht mir auch Freude zu recherchieren.

STANDARD: Müssten Sie einen Kanon erstellen, welche Bücher würden Sie zum Einstieg in die slowenische Literatur empfehlen?

Köstler: Zum Einstieg? Vitomil Zupan: Levitan – erscheint nächstes Frühjahr beim Berliner Guggolz-Verlag. Es wird ja auch ein Leben nach Frankfurt geben! (Stefan Gmünder, 14.10.2023)