Viennale
Statt Politik begleitete die Leidenschaft für Mysterien Raúl Ruiz' Spätwerk. Hier zu sehen die große Romanadaption "Mistérios de Lisboa".
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In einer revolutionären Situation sind viele knifflige Fragen zu beantworten. Zum Beispiel diese: Ein Arbeiter hat Geräte aus einer besetzten Fabrik mitgenommen. Seiner Meinung nach hat er damit die Enteignung erst vollendet, die Betriebsversammlung sieht das allerdings aus naheliegenden Gründen anders. Die Szene taucht in dem Film El realismo socialista (2023, ursprünglich 1973) von Raúl Ruiz und Valeria Sarmiento auf.

Eigentlich sollte der knapp 80-minütige Film vier Stunden lang sein und eine dialektische Bewegung vollziehen: Zwei Männer, einer linksradikal, einer bürgerlich angepasst, wechseln allmählich das politische Lager. In Chile standen damals die sozialistischen Reformen von Salvador Allende schon auf der Kippe. Und Raúl Ruiz, der seinen ersten langen Film Tres tristes tigres 1968 noch vor diesem Aufbruchsmoment gedreht hatte, hatte sich für eine Weile durchaus mit den ästhetischen Aspekten der linken Politik beschäftigt.

La expropriación (1974), sein Schlüsselwerk aus dieser Periode, streut jedoch Sand ins Getriebe der Umgestaltung: Bei einer Landreform weigern sich ausgerechnet die Bauern, ihre vorgesehene Rolle als freie Produzenten anzunehmen. Sie zeigen sich unwillig, aus der Ausbeutung auszusteigen.

Dass die Viennale und das Österreichische Filmmuseum dieses Jahr die Retrospektive dem sehr umfangreichen Werk von Raúl Ruiz (1941–2011) widmen, hat wohl in erster Linie mit seiner Herkunft aus Chile zu tun. Der amerikanisch unterstützte Putsch 1973 gegen Salvador Allende bleibt einer der größten Frevel des 20. Jahrhunderts. Ruiz ging, als Pinochet die Macht übernahm, nach Paris.

Kino-Chamäleon

Im Exil verwandelte er sich dann noch einige Male, und zwar so weit, dass er 2006 schließlich bei einem doch recht hohlen Spätwerk wie Klimt (mit John Malkovich) ankommen konnte. Der einstige Revolutionär Ruiz war ein Kostümfilmer in den Wirrungen des europäischen Koproduktionskinos geworden.

Davon sollte man sich aber nicht täuschen lassen. Denn jede der Stationen dazwischen ist spannend, und man kann mit Ruíz verschiedenste geistige Territorien des 20. Jahrhunderts "kartografieren" (Impossible Cartographies heißt ein sehr lesenswertes Buch über ihn).

In Paris wurde aus dem subversiven Soz-Realisten ein dezidierter Filmkünstler. Seine beiden Hauptwerke der 1970er-Jahre sind deutlich surrealistisch inspiriert. Bei La Vocation suspendue geht das bis in die Produktionsgeschichte, angeblich überschrieb der Autor Pierre Klossowski die Rechte an seinem Buch an einen Raül Rouys.

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Hier wird die Theologie zu einem Schlüssel, um noch einmal auf die antagonistischen politischen Konstellationen zurückzublicken, von denen Chile bestimmt war. Und mit Formen, die dem Barock entlehnt waren, ließ Ruiz die Dogmen der Linken hinter sich. Das intellektuelle Verwirrspiel L'Hypothèse du tableau volé (in dem es eben um ein gestohlenes Gemälde geht, das aus sechs anderen von demselben Maler erschlossen wird) wurde 1978 ein kleiner Hit.

Von Ruiz heißt es, er hätte noch vor seinem zwanzigsten Geburtstag hundert Theaterstücke geschrieben. Das ist wohl Selbstmythologisierung, das Theater blieb aber eine wichtige Ebene in seinem Werk. Empfehlenswert in dieser Hinsicht ist etwa La Présence réelle (1984), welches am Rande des Festivals von Avignon entstand und mit früher Computertechnik und dem Begriff Simulation schon die Ersetzbarkeit von Schauspielern durch Rechenkapazitäten vorwegnahm.

Proust mit Deneuve

Mit zunehmendem Prestige konnte Ruiz sich schließlich an einem der großen unverfilmbaren Stoffe versuchen: Le Temps retrouvé beruht auf dem letzten Band von Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Catherine Deneuve spielt darin und gastiert zu diesem Anlass am 26. Oktober im Gartenbaukino.

Es ist jedoch eine andere Romanadaption, mit der Ruiz 2010 noch einmal zu großer Form auflief: Mistérios de Lisboa beruht auf einem portugiesischen Schmöker von Camilo Castelo Branco und holt aus der Geschichte eines Waisenjungen während der liberalen Revolution in Portugal wirklich alles heraus, was das abendländische Denken an klassen- und ständepolitischen Umwälzungen so aufzuweisen hat.

Ruiz kam in diesem Moment sogar den Anfängen an der Seite von Allende noch einmal nahe, nun aber mit dem Wissen eines Alters, dem die Geschichte keinen erkennbaren Fortschritt mehr ergeben kann, sondern nur Mysterien, Geheimnisse.

Die Retrospektive zu Raúl Ruiz ist eine große Gelegenheit. Man sollte ihr bis in die hintersten Winkel des Labyrinthischen folgen. (Bert Rebhandl, 16.10.2023)