Nahost-Konflikt Hamas Anne Frank
Meron Mendel (47), aus Israel gebürtiger Sozialpädagoge und engagierter Publizist, sieht den säkularen Teil der israelischen Gesellschaft den Preis für Benjamin Netanjahus Politik zahlen.
Christian Charisius / dpa / pict

Nach dem Massaker der Hamas-Terroristen in Südisrael bekundeten Kulturgrößen wie Daniel Barenboim via Instagram ihr "Entsetzen" und teilten andererseits etwa die Kuratoren der indonesischen Künstlergruppe Ruangrupa ihre klammheimliche Genugtuung über Pro-Palästina-Demos auf Social Media. Letzteres gewahrt Meron Mendel mit Unbehagen. Seiner persönlichen Betroffenheit verlieh er in der FAZ Ausdruck und geißelte die "menschenverachtende Freude" auf deutschen Straßen. Der israelischstämmige Direktor der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt ist nicht nur mit einer Muslimin verheiratet (mit Saba-Nur Cheema schreibt er gemeinsam eine Kolumne in der FAZ), seit langem kritisiert er auch den Fundamentalismus auf beiden Seiten des Nahostkonflikts.

STANDARD: Der Präsident der Israelitischen Kulturgemeinde in Österreich hat davon abgeraten, im Wiener Stadtbild israelische Fahnen zu zeigen. Eine bestürzende Entwicklung?

Mendel: Zum einen ist es mehr als bedauerlich, dass Menschen in Österreich oder Deutschland anno 2023 verbergen müssen, dass sie Juden sind oder dass sie sich mit Israel verbunden fühlen. Das gibt zu denken, ganz egal, wie man sich politisch zum Nahostkonflikt stellt. Das Verhältnis zu den Juden war stets ein Seismograf dafür, wie offen oder diktatorisch eine Gesellschaft ist. Ich selbst bin seit langem der Meinung, das größte Problem im Nahostkonflikt sind auf allen Seiten Nationalismus und Fundamentalismus. Ich persönlich verwende keine nationalen Symbole, um meine Solidarität mit den Menschen vor Ort zum Ausdruck zu bringen.

STANDARD: Die Hamas-Mörder dürfen hoffen, dass die Dokumentation künftigen Leids eine Täter-Opfer-Umkehr bewirkt – sobald etwa die Israel Defense Forces zum Einsatz kommen. Sympathisanten der Kampagne BDS drücken indes Genugtuung aus, wenn sie "Free Palestine!"-Slogans teilen.

Mendel: In Debatten zum Nahostkonflikt tendieren wir zu einem binären Denkschema. Entweder sind die Palästinenser die Täter und die Israelis die Opfer, oder umgekehrt. Für mich sind alle Zivilisten unschuldig, ich unterscheide nicht zwischen einem toten Kind im Kibbuz oder einem toten Kind in Gaza-Stadt. Den Grundmaßstab bilden Menschenrechte und Menschenwürde. Diese sind unantastbar und geben keine Grundlage ab, um zwischen Muslimen und Juden zu unterscheiden. Mein Herz ist bei den verschleppten Kindern aus Israel. Mein Herz ist bei den palästinensischen Kindern. Das bedeutet aber nicht, dass beide Seiten moralisch auf gleicher Ebene stehen. Die brutalen Morde der Hamas-Terroristen stellen einen neuen moralischen Tiefpunkt in Nahost dar.

STANDARD: Was meint das für die Politik der Bilder?

Mendel: Das Privileg der Ignoranz können wir uns nicht leisten. Auf der anderen Seite gibt es ein gerüttelt Maß an Voyeurismus. Die Bilder der Opfer sind beiderseits schmerzlich. Der Unterschied: Die Bilder von Leichen in Gaza resultieren aus dem Versuch der israelischen Armee, die Hamas zu treffen. Diese benutzt Kinder als Schutzschilde. Das getötete Kind im Kibbuz Beeri war bewusst niedergemetzelt worden. Terroristen machten Jagd auf Kinder, Babys, Frauen. Dieser Umstand wurde von der Hamas nicht bloß in Kauf genommen, es wurden von ihr bewusst Massaker angezettelt.

STANDARD: Teile der antiimperialistischen Kulturlinken in Europa machen aus ihrer propalästinensischen Agenda kein Hehl.

Mendel: Als einer, der sich selbst als Linker definiert, unterscheide ich zwischen zwei Orientierungen. Es gibt diejenigen Linken, die sich an der Unteilbarkeit der Menschenrechte orientieren. Sie geißeln jegliches Unrecht, ganz egal, welche Hautfarbe oder Religion Täter wie Opfer haben.

STANDARD: Die Universalisten.

Mendel: Ja. Daneben existiert eine partikuläre Linke, die auf ein sehr starres Konzept von Identitätspolitik zurückgreift. Wenn man weiß ist, wird man automatisch als Täter etikettiert, "People of Color" hingegen übernehmen automatisch die Rolle der Opfer. Das Aufsetzen der partikulären Brille führt zu Voreingenommenheit. Man kann von partikulären Linken keine vernünftigen Einschätzungen erwarten, weil sie Vernunft und Aufklärung von vornherein ablehnen. Ganz gleich, in welche Abgründe wir zum Beispiel im Falle der Hamas blicken, deren Massaker an die Gräuel des IS erinnern: Die partikulären Linken werden Rechtfertigungsgründe dafür finden. Und erklären, warum alle Juden, die in Israel leben, Kolonialisten seien. Acht Millionen Juden sollen aus dem Nahen Osten verschwinden, am besten ins Meer getrieben oder abgeschlachtet werden. Das hat mit einer humanistischen Linken nichts zu tun.

STANDARD: Verdanken wir die Eskalation der Schwäche Israels: des Zerfalls seiner Gesellschaft in ein ultrareligiöses und in ein liberales Lager?

Mendel: Man muss von zwei Katastrophen sprechen, die innerhalb eines Jahres passiert sind. Wir haben die Inauguration einer Regierung erlebt, die so weit rechts steht wie keine andere vor ihr. Nicht nur wegen ihres Extremismus. Manche ihrer Mitglieder kennen Israels Gefängnisse besser von innen als andere Institutionen des Landes. Die waren nie beim Militär, wurden entweder als Rechtsextremisten oder Ultraorthodoxe ausgemustert. Bewirkt wurde eine Spaltung der Gesellschaft, die sich ohnehin von Feinden umringt findet. Wenn aber die Einigkeit innerhalb der Gesellschaft derart brutal von der eigenen Regierung erschüttert wird, indem diese große Teile der Demokratie abschaffen möchte, dann hat sie auch keine Kapazitäten frei, um über die Grenzen zu blicken. Vermutlich wäre die Überraschung durch den Hamas-Angriff nicht passiert, wenn das Land nicht von einer Staatskrise abgelenkt worden wäre.

STANDARD: Zeitigen Angriffe von außen keine einigende Wirkung?

Mendel: Diesen Reflex gibt es. Nach einem solchen Angriff rückt die Gesellschaft zusammen. Das meint jedoch ausschließlich, dass die interne Auseinandersetzung pausiert. Sobald ein Waffenstillstand ausgehandelt ist, werden Stimmen laut, die nach den Ursachen des Debakels fragen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Benjamin Netanjahu freiwillig die Verantwortung dafür übernimmt. Es wird eine sehr drastische innere Auseinandersetzung stattfinden, wie es dann weitergehen soll. Im Vergleich dazu werden sich die jüngsten Massenproteste wie eine Lappalie ausnehmen.

STANDARD: Was soll aus dem jungen, liberalen Israel werden?

Mendel: Sieht man sich die lange Liste der Ermordeten an, sind die meisten von ihnen junge Zivilisten aus den Kibbuzim. Die Hauptbetroffenen sind Mitglieder des säkularen "Tel-Aviv-Staates", nicht des religiösen "Jerusalem-Staates". Diejenigen, die für eine offene Gesellschaft eintreten, sind die, die den Preis zahlen für den Fanatismus. Diejenigen Israelis, die jetzt in den Krieg ziehen, sind nicht die Ultraorthodoxen. Die Last tragen die Säkularen. Wenn diese Bevölkerungsgruppe einmal resigniert hat, kann man für Israels Zukunft nur schwarzsehen. Man darf aber die Hoffnung nicht aufgeben. Wir haben seit Jahresbeginn gesehen, wie entschlossen und stark diese Menschen sind. (INTERVIEW: Ronald Pohl, 14.10.2023)