Mnschen zünden Kerzen an
Während Israel seine Toten betrauert und um die Geiseln in Gaza bangt, erwidert die Armee den massiven Angriff der Hamas.
REUTERS/JANIS LAIZANS

Als am 7. Oktober um 6.37 Uhr die Sonne über dem Süden Israels aufgeht, deutet auf den ersten Blick so gut wie nichts darauf hin, dass sich der anbrechende Morgen schon wenig später zum schwärzesten Tag in der Geschichte des jüdischen Staates entwickeln sollte. "Israels 9/11" wird man ihn später nennen. Für viele Israelis teilt dieser Samstag seither die Zeit in ein Davor und ein Danach.

Frühmorgens an dem Tag ist es ruhig in den kleinen Kibbuzim rund um den Gazastreifen. Nach und nach erwachen die ersten Bewohnerinnen und Bewohner. Gerade erst ist das jüdische Laubhüttenfest Sukkot zu Ende gegangen, den anschließenden Feiertag Simchat Torah nutzen nicht nur gläubige Jüdinnen und Juden gerne für Familientreffen. Dass etwa zeitgleich mit dem Sonnenaufgang die ersten Sirenen vor Raketenbeschuss warnen, regt zu diesem Zeitpunkt kaum jemanden auf – zu sehr ist man im Süden Israels an diese Art der Bedrohung gewöhnt. Ein tragischer Irrtum, wie sich bald herausstellen sollte.

Trügerische Ruhe

Auch Yafa Adar dürfte zu diesem Zeitpunkt schon wach gewesen sein. Die 85-jährige Großmutter, alleinstehend und auf Medikamente angewiesen, zählte vor fünf Jahrzehnten zu den Gründerinnen von Nir Oz, einem säkularen Kibbuz im Nordwesten der Negevwüste – gerade einmal zwei Kilometer vom Gazastreifen entfernt. Ihr Häuschen liegt idyllisch zwischen Feigenbäumen und einem botanischen Garten. Weil der Raketenalarm an diesem Morgen nicht verstummt, ruft sie ihre Enkelin an, die in einem Nachbardorf lebt. Von dem Grauen, das Adar – und mit ihr ihre Familie – schon bald heimsuchen würde, ahnt sie noch nichts.

Wummernde Beats

Etwa zur gleichen Zeit tanzen vierzig Autominuten weiter nördlich auf dem "Supernova Universo Paralello"-Festival nahe des Kibbuz Re’im tausende meist junge Israelis, aber auch Musikfans aus anderen Ländern, unbeschwert zu Psytrance-Klängen dem Tag entgegen. Erst am Vorabend ist das Fest eröffnet worden, die Veranstalter versprachen "Freunde, Liebe und unendliche Freiheit". Über dem Dancefloor wacht eine Buddha-Statue. Waffen und spitze Gegenstände sind auf dem Festivalgelände in der Wüste verboten. Der Raketenalarm, der für viele junge Israelis längst zum Alltag gehört, geht unter den wummernden Beats fast unter.

Gut möglich, dass auch Noa Argamani von der Bedrohung lange nichts mitbekommt. Die Studentin, die am Donnerstag ihren 26. Geburtstag hätte feiern sollen, ist erst am Vorabend gemeinsam mit ihrem Freund Avinatan Or aus der nahegelegenen Großstadt Beersheba angereist. Wo genau die Party stattfindet, hat sie, so wie die anderen vermutlich mehr als 3000 Gäste, erst kurz davor erfahren. Doch nicht nur sie kennen nun die Koordinaten des Festgeländes fernab der Zivilisation – sondern auch die Terroristen.

Während Yafa Adar noch schläft und Noa Argamani tanzt, braut sich, von der sonst so wachsamen israelischen Armee unbemerkt, wenige Kilometer weiter westlich ein tödlicher Sturm zusammen. Im Laufe der kommenden Stunden sollte er Israel, das an Terror und Krieg leidvoll gewöhnte Land, härter treffen als jedes andere Ereignis seit der Staatsgründung 1948.

Löcher im Zaun

Denn in dem Zaun, der, wenige Kilometer von den beiden Frauen entfernt, mit Stacheldraht, ferngesteuerten Gewehren und Hightech-Überwachungsequipment bewehrt in den Himmel ragt und Israel eigentlich vor den Terroristen der Hamas schützen soll, klaffen an diesem Morgen bereits große Löcher. Die israelische Armee, weltweit gefürchtet wie bewundert für ihre Schlagkraft, kann nicht verhindern, dass kurz nach Morgengrauen immer mehr Kämpfer durch ebendiese Löcher schlüpfen.

Wie später bekannt wird, haben die palästinensischen Terroristen und ihre Helfer die eigentlich als unüberwindbar geltende Sperranlage binnen weniger Stunden gleich an 29 Stellen durchbrochen. Zu Fuß, mit Pick-ups und auf Motorrädern dringen binnen Minuten erst dutzende, später hunderte, am Ende vermutlich mehr als 1000 schwer bewaffnete Kämpfer in Israel ein.

Erst 2019 war der "Iron Wall" genannte Hightech-Zaun rund um den von der Hamas beherrschten Gazastreifen fertiggestellt worden. 65 Kilometer fräst er sich durch die Wüste, eine Milliarde US-Dollar hat er gekostet, heißt es. Ferngesteuerte Maschinengewehre, auszulösen per Sensoren und gesteuert von Soldaten im Kommandozentrum, die über Glasfaserkabel miteinander kommunizieren, sollten eigentlich jede Gefahr bannen. Bis zu diesem Oktobertag.

Gelähmte Armee

Mithilfe von Drohnen, so wird später bekannt, zerstören die Kämpfer der Hamas die Überwachungstürme, von denen aus die Kameras und Geschütze am Zaun bedient werden. Israels Hightech-Armee ist geblendet. Weil die Regierung von Benjamin Netanjahu in den vergangenen Monaten Soldatinnen und Soldaten in das Westjordanland abkommandiert hat, sind die Kasernen an diesem Samstag zudem ausgedünnt. Bulldozer und Sprengsätze erledigen den Rest.

Israel, das in diesen Minuten erwacht, ist den Terroristen schutzlos ausgeliefert. Vier Armeestützpunkte werden kurz darauf von Bewaffneten überfallen, mehr als 220 Soldaten teils noch in ihren Betten ermordet, weil mangels funktionierender Kommunikationssysteme niemand sie warnt. Viele weitere werden entführt. Ein Schicksal, das wenig später auch Yafa Adar und Noa Argamani widerfahren sollte. Doch noch ist es nicht so weit.

Wie viele Hamas-Kämpfer tatsächlich nach Israel eindringen, ist bis heute nicht gesichert, mehr als 1000 werden im Laufe der Woche von den israelischen Behörden als getötet gemeldet. Bis zu 25 Kilometer tief dringen die Terroristen in israelisches Gebiet ein, zeitweise werden sie bis zu 80 Quadratkilometer kontrollieren, ehe die israelische Armee die Oberhand gewinnt.

Unvorstellbares Blutbad

Zuvor richten sie in den Ortschaften und Kibbuzim entlang der Grenze ein unvorstellbares Blutbad an: Mehr als 1300 getötete Israelis, die meisten davon Zivilistinnen und Zivilisten, zählten die Behörden bis Freitag, darunter auch zumindest drei österreichisch-israelische Doppelstaatsbürger. Tausende werden verletzt. Bilder, vor allem aber Videos, die von den Terroristen Trophäen gleich ins Netz gestellt werden, zeugen von dem Massaker. Ganze Familien werden in ihren Häusern, auf der Straße, in Luftschutzbunkern ermordet.

Im Kibbuz Kfar Aza werden israelische Soldaten später auch Leichen von Kleinkindern und Babys finden. Hart gesottene Kriegsreporter ringen vor laufender Kamera mit den Tränen. Nie zuvor seit dem Holocaust sind so viele Jüdinnen und Juden an einem Tag ermordet worden wie am 7. Oktober. Die Sicherheit, in der sich die Bewohnerinnen und Bewohner des Südens Israels wähnten, sie war trügerisch. 150 von ihnen, schätzen die israelischen Behörden, wurden in den Gazastreifen verschleppt.

Großmutter im Golfcart

Auch über den Kibbuz Nir-Oz ist da längst der Horror hereingebrochen. Terroristen schießen im Kibbuz um sich. Gegen neun Uhr versucht die Enkelin von Yafa Adar, ihre 85-jährige Großmutter noch einmal zu erreichen. Ohne Erfolg. Erst acht Stunden später bekommt die Familie eine Ahnung, was der alten Dame widerfahren ist. Während Soldaten melden, dass in das Haus eingebrochen wurde, und von Adar jede Spur fehlt, entdeckt die Familie im Netz ein Video, auf dem sie zu sehen ist. Bewaffnete, triumphierend lachende Männer haben die alte Dame in einem Golfcart in den Gazastreifen verschleppt. In eine rosarote Decke eingehüllt, blickt Yafa Adar in die Kamera der Hamas.

Einer ihrer Enkelsöhne, der im Sicherheitsteam des Kibbuz arbeitete, gilt als vermisst. Das Schicksal der alten Frau ist so wie jenes der anderen israelischen Geiseln, darunter Babys, Greise und Kleinkinder, auch eine Woche später ungewiss. Überlebende schätzen, dass fast die Hälfte der zuvor etwa 400 Bewohnerinnen und Bewohner des Kibbuz getötet oder entführt wurde.

Roter Alarm in der Wüste

Etwa zeitgleich bricht, wenige Kilometer von dem Kibbuz entfernt, auch unter den Raverinnen und Ravern auf dem Musikfestival bei Re’im Panik aus. "Roter Alarm. Wir haben roten Alarm", wird über Lautsprecher durchgesagt, als erste Hamas-Kämpfer bereits das Festgelände erreicht haben, der Strom ausfällt, Raketen die Partygäste treffen und die hoffnungslos unterlegene Security überwältigt ist. Wo eben noch getanzt wurde, herrscht Chaos. Flüchtende werden von den Terroristen erschossen, die zum Teil auch mit Paraglidern über die nahe Grenze des Gazastreifens geflogen sind. Vom israelischen Militär keine Spur.

Mindestens 260 Menschen, die meisten davon junge Partygäste, werden erschossen, einige laut Berichten vergewaltigt, viele weitere entführt. So auch Noa Argamani und ihr Freund Avinatan Or. Die Fotos der Frau, die von Terroristen auf ein Motorrad in Richtung Gaza gesetzt wurde, gehen wenig später um die Welt. "Tötet mich nicht", fleht sie ihre Entführer an. Ihr Freund kann, gehalten von mehreren Terroristen, nur hilflos zusehen. Auch sein Schicksal ist ungewiss.

Trauernder vor Grab
Ein junger Mann betrauert bei einem Begräbnis auf dem Jerusalemer Herzlberg einen von der Hamas getöteten Freund. Auch in Gaza wird nun um Tote geweint.
TAMIR KALIFA/The NewYorkTimes/Re

"Wir sind im Krieg"

Erst 48 Stunden nach Beginn des Großangriffs bekommen die israelischen Streitkräfte die Situation langsam unter Kontrolle. Soldatinnen und Soldaten, die an den Tatorten eintreffen, finden traumatisierende Bilder vor. "Wir sind im Krieg", sagt Ministerpräsident Benjamin Netanjahu schon am Samstag, als das volle Ausmaß des Schreckens noch gar nicht bekannt ist.

Während die Armee eine Bodenoffensive vorbereitet und Gaza intensiv bombardiert, sucht das schockierte Land nach Erklärungen für das Geschehene. Die Hamas habe es geschafft, die sonst so ausgebufften Geheimdienstler von Mossad und Shin Bet zu täuschen, heißt es. Jahrelang habe man so getan, als hielte man sich im Kampf gegen Israel zurück, um wirtschaftliche Erleichterungen etwa für Arbeitskräfte aus dem Gazastreifen zu erwirken.

Die von Rechtsextremen und Religiösen durchsetzte Regierung Israels legte zuletzt ihr Augenmerk auf das Westjordanland und die jüdischen Siedlungen dort. Derweil rüstete die Hamas im Gazastreifen unbemerkt auf – mithilfe des Iran, wie vermutet wird. Israels hoch technisierte Spionage erwies sich als nutzlos, weil die Hamas-Kader schlicht keine Telefone benutzten, um ihre Pläne miteinander abzustimmen.

Land in Ohnmacht

Doch wie geht es weiter? Noch bevor Israels Armee zu ihrem von Netanjahu angekündigten großen Schlag gegen die Hamas angesetzt hat, schlägt der Schock vieler Israelis in Wut auf ihre politische Führung um. Nicht nur habe der Geheimdienst versagt, die Regierung habe außerdem die Angehörigen der Entführten viel zu lange im Ungewissen gelassen, heißt es. In einer Umfrage der Jerusalem Post am Donnerstag orten satte 86 Prozent der Befragten ein Versagen ihrer Führung.

Yaakov Argamani nutzen derlei Analysen jetzt nichts. Am Montag legte ein weiteres Video der Hamas nahe, dass sich seine Tochter als Geisel in Gaza befindet. "Seit ihrer Geburt habe ich versucht, sie zu beschützen. In diesem Moment konnte ich das nicht", sagt der weinende Vater in einem Interview. So wie er fühlt jetzt ein ganzes Land. (Florian Niederdorfer, 13.10.2023)