Vesuvius Challenge Papyrus Vesuv Herculaneum
Licht ins verkohlte Dunkel verbrannter Papyri: die ersten Buchstaben, die nach fast zwei Jahrtausenden wieder lesbar wurden.
Vesuvius Challenge

Vermutlich am 24. Oktober des Jahres 79 unserer Zeitrechnung erschütterte eine gewaltige Eruption den Vulkan Vesuv und das Umland. Die blühenden Städte Pompeji und Herculaneum wurden binnen weniger Tage von einer rund 20 Meter hohen Lavaschicht bedeckt, tausende Menschen starben im Inferno.

Fast 1.700 Jahre später wurde mit der Freilegung der spektakulären Überreste begonnen. Bereits im Jahr 1752 fand man in Herculaneum eine einzigartige Sammlung von etwa 1.800 verkohlten Schriftrollen. Fundort der Bibliothek war eine Villa, die der Familie des Schwiegervaters von Julius Cäsar gehört haben könnte. Diese Schriftrollen, die heute zum Gutteil in der Biblioteca Nazionale di Napoli aufbewahrt werden, bilden die einzige bekannte Textsammlung der Antike, die sich als Ganze erhalten hat – leider nur in verkohlter Form.

Die Entzifferung der Papyri könnte das Wissen über die antike Geschichte und Literatur revolutionieren. Denn die Bibliothek von Herculaneum enthält allem Anschein nach Werke, die aus keiner anderen Quelle bekannt sind und direkt von antiken Autoren stammen – mutmaßlich ohne weiteres Abschreiben. Die Betonung liegt auf dem "könnte", denn die Schriftrollen liegen nur in verbrannter, verbogener, fragiler und mithin unleserlicher Form vor. Das Öffnen der Schriftrollen ist auch nur bedingt eine Lösung: Die bedeutet nicht nur die Zerstörung der Papyri, sondern führt vermutlich auch dazu, dass alle sichtbaren Strukturen an der Luft für immer verschwinden.

Röntgenstrahlen und KI

Seit ein paar Jahre gibt es Hoffnung, dass in den Papyri gelesen werden kann, ohne sie zu öffnen. Forschern um Brent Seales (University of Kentucky) gelang 2016 ein erster wichtiger Durchbruch: Sie schafften es, eine 1.700 Jahre alte, ebenfalls verbrannte hebräische Schriftrolle mit hochenergetischen Röntgenstrahlen so zu durchleuchten, dass der verborgene Text tatsächlich lesbar wurde. Wie sich herausstellte, handelte es sich um einen Text aus dem biblischen Buch Levitikus.

Diese Schriftrolle stellte freilich eine Ausnahme dar, die das Entziffern maßgeblich erleichterte: Die Tinte, mit der sie beschrieben wurde, enthielt feinste Metallpartikel, die bei Röntgenbestrahlung relativ gut sichtbar wurden. Bei den Schriftrollen aus Herculaneum wurde aber Tinte auf Kohlenstoffbasis mit ganz wenig Blei verwendet. Das macht es unmöglich, den Inhalt der Schriftrollen mit "normalen" Röntgenstrahlen sichtbar zu machen. Also wurden zwei dieser Papyri aus Herculaneum, die dem Collège de France gehören, 2019 mit besonders energiereichen Röntgenstrahlen der britischen Synchrotronstrahlungsquelle Diamond Light Force bestrahlt.

700.000 Dollar als Ansporn

Davon wurden zahllose Scans gemacht, die Forschenden zugänglich sind. Man hofft, mittels wissenschaftlicher Kreativität und künstlicher Intelligenz Licht in das verkohlte Dunkel der Texte zu bringen. Doch die Herausforderung erwies sich als noch größer als gehofft. Um dem Forschergeist etwas nachzuhelfen, wurde die Vesuvius Challenge ins Leben gerufen, die von Brent Seales mitbegründet wurde. Mithilfe des ehemaligen CEO von Github, Nat Friedman, und einiger weiterer Sponsoren war es möglich, einen Hauptpreis in Höhe von 700.000 Dollar sowie mehrere kleinere Preise für diejenigen auszuloben, die bei der Entschlüsselung der Schriftrollen helfen können.

Der erste Preis wurde vergangene Woche vergeben und geht an den 21-jährigen Informatikstudenten Luke Farritor, dem es gelungen war, das Wort "πορφυρας" auf einer Schriftrolle zu entziffern, was so viel wie "violetter Farbstoff" oder "violette Tücher" bedeutet.

"Herzlichen Glückwunsch an den 21-jährigen Informatikstudenten Luke Farritor, den ersten Menschen, der diese Handschrift seit fast 2.000 Jahren gesehen hat", twitterte Nat Friedman enthusiastisch. "Er hat den mit 40.000 Dollar dotierten Preis für die ersten Buchstaben für diese weltgeschichtliche Leistung gewonnen."

Kurz nach der Verleihung dieses Preises gelang es Youssef Nader, einem anderen Teilnehmer, dasselbe Wort mit größerer Klarheit zu identifizieren, was ihm den zweiten Preis in Höhe von 10.000 Dollar einbrachte. Diese beiden Errungenschaften wären ohne die Beiträge eines anderen Teilnehmers, Casey Handmer, nicht möglich gewesen, der in der ungeöffneten und versteinerten Schriftrolle deutliche und überzeugende Hinweise auf Tinte fand. Handmer gewann damit einen weiteren, mit 10.000 Dollar dotierten Preis, den First-Ink-Prize.

In einem ausführlichen Blogeintrag erklärte Handmer, wie er die Tinte identifizieren konnte. Seine Arbeit legte den Grundstein für Farritors spätere Entdeckung. Der große Preis der Vesuvius Challenge in Höhe von 700.000 Dollar ist immer noch zu gewinnen, und nach diesen wichtigen Beiträgen von Farritor, Nadar und Handmer scheint er nun in greifbare Nähe gerückt zu sein. Der Einsendeschluss für den Hauptpreis ist der 31. Dezember, und Brent Seales beschreibt die Stimmung als "unbändigen Optimismus". Luke Farritor hat seine Modelle bereits über andere Segmenten der Schriftrolle laufen lassen und sah angeblich viele weitere Buchstaben auftauchen. (Klaus Taschwer, 16.10.2023)