Es waren 24 Betonstelen, die auf einmal nahe eines Einfamilienhauses in einem Dorf in Nordthüringen emporragten – die größte 2,50 Meter hoch. Es war das Haus des AfD-Politikers Björn Höcke. Und das Kunstwerk war dem Holocaust-Mahnmal in Berlin nachempfunden. Das Zentrum für Politische Schönheit (ZPS), eine Gruppe von Aktionskünstlerinnen und Aktionskünstlern, hatte sich auf dem Nachbargrundstück eingemietet und es 2017 aufgestellt. Die AfD war außer sich, Anwohnende in Aufruhr, die Geschichte machte Schlagzeilen. Cesy Leonard saß damals im Planungsstab des ZPS, das bei einer anderen vielbeachteten Aktion vorgab, nach Flüchtlingen zu suchen, die sich öffentlich von Tigern fressen lassen wollen.

Nun möchte die gebürtige Stuttgarterin andere zur Aktionskunst bringen. 2019 gründete Leonard die Radikalen Töchter und gibt seitdem gemeinsam mit einer Kollegin Workshops für Jugendliche. Über ihre Arbeit und über politische Teilhabe spricht Cesy Leonard am Mittwoch in der Wiener Hofburg. Die "Erdgespräche" sind eine Veranstaltung des Neongreen Network. Im Interview erklärt Leonard, wie radikal Protest sein darf.

Cesy Leonard hat ein Faible für Kunst, die provoziert. Mit ihrem Verein Radikale Töchter will sie junge Menschen zur Aktionskunst bewegen. Das sei langfristig wirkungsvoller, als nur eigene Aktionen zu starten.
Meike Kenn

STANDARD: Weltweit machen sich bei der Bewegung Fridays for Future junge Menschen für das Klima stark. Was sie erreicht haben, ist überschaubar. Sind sie zu brav?

Leonard: Fridays for Future hat sehr wohl etwas bewegt! Sie haben das Thema Klimakrise in die breite Öffentlichkeit getragen. Es gab auch schon lange keine Bewegung mehr, die so viele Menschen von jung bis alt mitgerissen hat. Auch wenn ihre Proteste nicht unbedingt das Richtige für mich wären, sind sie durchaus ein wichtiges Mittel, um Menschen auf die Straße zu bringen, die zuvor nicht auf die Straße gegangen wären.

STANDARD: Wie würden Sie es denn machen?

Leonard: Mit aktionskünstlerischen Mitteln. Uns geht es nicht darum, unser Gesicht auf einer Demo zu zeigen – wir drehen Filme, bauen Denkmäler woanders neu auf, erfinden Realitäten, die wir gerne hätten. Im Gegensatz zu politischem Aktivismus geht es uns weniger um die Wirkung oder konkrete Forderungen. Vielmehr wollen wir Ambivalenzen aufzeigen, Missstände ins Bewusstsein der Menschen rücken, die sie vorher vielleicht nicht gesehen hätten. Die Frage, wie wirksam eine Aktion ist, ist meiner Meinung nach auch grundlegend falsch. Weil sie die Menschen zum Zweifeln bringt. Sie meinen dann: Es bringt ja eh nichts, aktiv zu werden, deshalb muss ich gar nicht erst anfangen. Aber Mutlosigkeit ist einer unserer schlimmsten Feinde.

STANDARD: Ganz und gar nicht mutlos ist die Letzte Generation. Mit ihren Protestformen regt sie auf und polarisiert. Ist das mehr in Ihrem Sinne?

Leonard: Was großartig ist: Die Letzte Generation hat es geschafft, Aufmerksamkeit auf ihre Proteste zu lenken. Das ist der Gruppe in einer beispiellosen Art und Weise gelungen. Zuerst, indem sie Kartoffelbrei auf das Schutzglas vor bekannten Kunstwerken geworfen hat, dann durch das Festkleben auf der Straße. Ich denke jedoch, dass jetzt ein Wechsel in der Strategie notwendig wäre. Die Gruppe hat nun die Aufmerksamkeit, jetzt muss sie sie schlau nutzen. Die Letzte Generation müsste sich stärker an die Verantwortlichen richten. Und das sind nicht unbedingt die Menschen, die mit dem Auto zur Arbeit fahren. Eher sind es Politikerinnen und Politiker, Firmen oder Superreiche – sie sind bekanntlich für die meisten Emissionen verantwortlich.

STANDARD: Wann ist Protest wirksam? Braucht es das Radikale?

Leonard: Wir brauchen all die unterschiedlichen Strömungen. Und ja, es braucht auch Leute, die bereit sind, radikaler vorzugehen. Wichtig ist jedoch, dass wir die einzelnen Protestbewegungen nicht gegeneinander ausspielen. Dass die Letzte Generation die Arbeit von Fridays for Future kaputt gemacht hat, ist völliger Quatsch.

STANDARD: Abgesehen von Klimaaktivismus regt sich heute scheinbar kaum Widerstand. Protest findet oft im Internet statt, wo Menschen Petitionen unterschreiben oder Postings teilen. Sind wir zu bequem geworden, zu angepasst, zu feig? Oder geht es um ebenjenes Gefühl, ohnehin nichts bewirken zu können?

Leonard: Alles zusammen. Wir werden in unserer Gesellschaft von klein auf dazu erzogen, Regeln einfach zu akzeptieren und sie nicht zu hinterfragen. Die Politik verkauft uns, dass es keine Alternativen gibt. Dass wir beispielsweise immer beim Verbrennermotor bleiben müssen. Den Status-quo einfach hinzunehmen steckt tief in uns drin. Es führt vielleicht dazu, dass wir nicht ganz so mutig sind oder das Gefühl haben: Wenn wir protestieren, bringt das eh nichts. Aber es gibt sie sehr wohl, die Alternativen. Zudem bin ich der Meinung, dass es auch eine ganz neue Art und Weise zu protestieren braucht. Es kann nicht nur dabei bleiben, dass wir Petitionen unterschreiben oder mit Bannern zu einer Demo gehen.

STANDARD: Mit Radikale Töchter wollen Sie junge Menschen bestärken, mit Aktionskunst politisch aktiv zu werden. Was ist die wichtigste Lektion?

Leonard: Dass Regeln gemacht sind und hinterfragt werden müssen. Eines der ersten Dinge, mit denen wir uns in den Workshops beschäftigen, ist außerdem die eigene Wut: Was macht mich wütend? Was möchte ich gerne verändern? Wut ist ein ganz wichtiger Motor für politisches Handeln.

STANDARD: Nun gibt es jede Menge Bereiche, in denen es Missstände gibt, gegen die man sich engagieren könnte – Menschenrechte, Kinderrechte, der Zustand der Umwelt oder der Demokratie, um nur einige zu nennen. Wie findet man "sein" Thema?

Leonard: Zunächst ist es vollkommen okay, sich drei Monate lang mit einem Thema zu beschäftigen und danach wieder mit einem anderen. Also zum Beispiel zuerst mit der Klimakrise und dann wieder mit Tierschutz. Das Gefühl der Wut ist wie ein Kompass hin zu einem Thema. In den Workshops schreiben wir gemeinsam auf, was jemand verändern möchte, und planen dann eine Aktion. Wir probieren, einen Missstand anzuklagen, versuchen, Aufmerksamkeit für diesen Missstand zu erregen.

STANDARD: Was waren Aktionen, die in den Workshops entstanden sind?

Leonard: Kürzlich haben Teilnehmerinnen und Teilnehmer eine Aktion bei einer Kürbisausstellung gestartet. Sie haben eigene Kürbisse unter die Ausstellungsstücke geschmuggelt. Diese Kürbisse hielten kleine Protestschilder, auf denen stand etwa: "Kürbisse nicht für Nazis" oder "Wir sind eine Kürbisgruppe gegen Nazis". Es gibt ganz viele Bilder und Aufnahmen, die zeigen, wie die Besucherinnen und Besucher darauf reagiert haben. Eine andere Gruppe hat eine Bäckerei umbenannt, die ein rassistisches Wort in ihrem Namen hat und die Bewohnerinnen und Bewohner in der Stadt gefragt, was sie von dem neuen Namen halten.

STANDARD: In einem Interview sagen Sie, dass uns Zukunftsvisionen "krass aberzogen" werden. Selbst in der Politik kämen sie nicht vor. Wie kommen wir wieder zum Visionieren? Bei vielen Themen wie bei der Bewältigung des Klimawandels stehen wir ja derzeit an.

Leonard: Ich glaube, dass Visionen auch ganz viel mit Emotionen zu tun haben. Wenn eine Politik Zukunftsvisionen zeichnet, muss sie die Menschen auch emotional auf diese Reise mitnehmen. In welcher Welt wollen wir leben, was bedeutet diese Vision für uns? In Deutschland haben wir leider sehr schlechte Erfahrungen mit Menschen gemacht, die ein Volk emotionalisiert haben. Und nun haben wir eine Politik, die sehr stark mit Fakten arbeitet. Was auf jeden Fall wichtig und richtig ist. Gleichzeitig haben wir auf der rechten Seite Menschen, die mit Wählerstimmen Emotionen einfangen. Es braucht wieder Politikerinnen und Politiker, die bereit wären, über positive Visionen und Emotionen Politik zu machen.