Unterstützer der Hamas bei einer Demonstration in Gaza im Juni. Wie viele in der Bevölkerung denken wie sie?
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Es waren, in Worten der kräftigen Unterstützung, schlussendlich mäßigende Worte, die US-Präsident Joe Biden bei seiner Pressekonferenz mit Israels Premier Benjamin Netanjahu am Mittwoch in die Mikrofone sprach: Man müsse bei aller Verderbtheit der Hamas stets bedenken, dass diese nicht alle Palästinenserinnen und Palästinenser repräsentiere und auch diesen nur Leid gebracht habe. Auch als Israel nach den verheerenden Terrorangriffen vor knapp zwei Wochen die Zerstörung der Hamas im Gazastreifen ankündigte, waren oft mahnende Worte zu hören: Die Unterstützung, die die Hamas unter den 2,3 Millionen Menschen in dem engen Küstengebiet genießt, sei schwer zu messen – man dürfe nicht dessen Bewohnerinnen und Bewohner mit der Terrororganisation vermischen.

Wie aber sieht es wirklich aus mit der Unterstützung, auf die die Gruppe unter den Menschen in Gaza bauen kann? Wahlen geben darüber keine Auskunft: Die letzten in den Palästinensergebieten waren im Jahr 2006, die Hamas gewann sie damals knapp – wenngleich im Gazastreifen etwas deutlicher. Ein Gutteil der heutigen, im Schnitt sehr jungen Bewohner des Gebietes war damals noch nicht wahlberechtigt. Der STANDARD hat sich mehrere Umfragen aus den vergangenen Jahren angesehen, die versuchen, sich dieser Frage zu nähern. Sie zeichnen ein zwiespältiges Bild, das von Unterstützung für die Organisation in Teilen, aber nicht der Mehrheit der Bevölkerung zeugt, von großer Feindschaft gegenüber Israel – aber auch von deutlichem Widerspruch zu Aktionen der Hamas, die aktuell eine weitere Konfrontation auslösen könnten. Und sie alle haben gemeinsam, dass sie mit Vorsicht zu lesen sind: Zwar beteuern die ausführenden Institute, dass ihre Befragungen unter hohen professionellen Standards und Zusicherung strenger Anonymität durchgeführt worden sind.

Gazastreifen: Überleben ohne Grundversorgung
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Aber doch herrschen im Gazastreifen nicht jene gesellschaftlichen Bedingungen, die eine freie und unbesorgte Meinungsäußerung ermöglichen würden. Die Hamas regiert den Gazastreifen seit 2007 – seit über 15 Jahren hat die Bevölkerung dort also kein Mitbestimmungsrecht mehr. Eine deutliche Mehrheit von 77 Prozent sprach sich bei einer vom Palestinian Center for Policy and Survey Research gemeinsam mit der deutschen Konrad-Adenauer-Stiftung (Standort Ramallah) durchgeführten Befragung vom Juni für baldige Wahlen aus – geht aber zugleich nicht davon aus, dass es diese geben wird. Das Institut ließ 1.270 zufällig ausgewählte Erwachsene an öffentlichen Orten im Westjordanland und dem Gazastreifen befragen, nennt aber die Verteilung zwischen den beiden Gebieten nicht.

Innenpolitik

Welche Meinung haben die Menschen in Gaza nun von der Hamas insgesamt? Damit hat sich im Juli eine laut ihren Machern repräsentative Umfrage des US-Thinktanks Washington Institute for Near East Policy unter 500 Menschen im Gazastreifen auseinandergesetzt. Demnach haben rund 20 Prozent eine "sehr positive" Meinung und weitere 37 Prozent eine "eher positive" Meinung von der Hamas. 25 Prozent sehen die Gruppe "eher negativ" und 15 Prozent "sehr negativ". Die Werte sind, im Vergleich zur Fatah, die im Westjordanland die Regierung stellt, etwas geringer: Diese sehen insgesamt rund 63 Prozent positiv. Auch andere radikale Gruppen, etwa der Islamische Jihad, wurden positiver gesehen als die Hamas.

Wie sind diese Aussagen insgesamt einzuschätzen? Vielleicht gibt eine Zahl aus einem Paper des Doha Institute for Research & Policy Studies darüber Auskunft. Das von der Regierung des Golfemirats finanzierte Forschungsinstitut hat eine Umfrage des Arab Opinion Index ausgewertet, für den seit 2011 Menschen in Gaza (und vielen anderen Gebieten) über ihre Meinung befragt werden. Von 911 dort im Jahr 2022 befragten Menschen sagten nur rund 51 Prozent der Befragten, sie könnten ihre Regierung ohne Angst vor Repressalien kritisieren – während die andere Hälfte die gegenteilige Meinung zum Ausdruck brachte. Dennoch drückten in dergleichen Befragung rund 63 Prozent "Misstrauen" gegen ihre Regierung aus.

Und das ist eine Haltung, die sich auch in anderen Teilen der gleichen Erhebung zum Ausdruck kommt. Nach ihrer Präferenz zwischen Hamas und Fatah befragt, sagen mehr als 50 Prozent, sie würden sich für keine der beiden Bewegungen entscheiden, stünden jetzt Wahlen an. Unter den Verbleibenden hätte sich demnach 2022 eine knappe Mehrheit eher für die Fatah als für die Hamas entschieden. Beide Werte liegen unterhalb von 20 Prozent. In der Befragung des Palestinian Center for Policy and Survey Research bietet sich ein anderes Bild: Dort geben sich 44 Prozent als potenzielle Hamas-Wähler und 28 als mögliche Fatah-Unterstützer aus.

Außerdem zieht auch in dieser Befragung eine deutliche Mehrheit die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) der Hamas vor: 70 Prozent der Befragten unterstützen den Vorschlag, dass die PA "Beamte und Sicherheitskräfte in den Gazastreifen schickt, um dort die Verwaltung zu übernehmen, während die Hamas ihre bewaffnete Einheiten aufgibt". Und diese Ansicht ist nicht neu: Seit Beginn der Umfragen 2014 wird dieser Vorschlag im Gazastreifen mehrheitlich unterstützt. Laut Doha Institute ist das Interesse der Bevölkerung an Politik jedenfalls gesunken: Von noch rund 57 Prozent im Jahr 2011 auf nur noch knapp 40 Prozent 2022.

Sind die Befragten überhaupt für eine Demokratie? Eine Mehrheit bevorzugt laut der Doha-Institute-Umfrage ein politisches System, in dem alle politischen Parteien frei sind. Die Unterstützung dafür ist seit 2011 von rund 60 auf etwa 50 Prozent gesunken. An zweiter und dritter Stelle stehen aber die islamische Scharia sowie ein System, in dem nur islamistische Parteien zur Wahl zugelassen sind (je knapp 20 Prozent).

Verhältnis zu Israel

Laut der Befragung des Washington Institute – in der ja eine Mehrheit die Hamas unterstützt – zeigt sich bei den Antworten auf konkrete Fragen ein eher diffuses Bild. So verlangt rund die Hälfte der Befragten im Gazastreifen einen Kurswechsel der Hamas: 50 Prozent stimmten dem Vorschlag zu, dass die Hamas aufhören soll, "die Zerstörung Israels zu fordern, und stattdessen eine dauerhafte Zweistaatenlösung auf der Grundlage der Grenzen von 1967" akzeptieren soll. Eine noch größere Mehrheit von etwa 62 Prozent stimmte der Aussage zu, die Hamas solle "einen Waffenstillstand mit Israel im Westjordanland und Gaza befolgen". Zugleich hielten einen baldigen Frieden viele nicht für wahrscheinlich. Etwa zwei Drittel gingen für das restliche Jahr 2023 davon aus, dass es "zu einem großen militärischen Konflikt zwischen der Hamas und Israel in Gaza" kommen werde.

Vielleicht auch aus diesem Grund unterstützt eine große Mehrheit den Aufbau bewaffneter Gruppen – im Gazastreifen waren es im Juni laut der Befragung des Palestinian Center for Policy and Survey Research rund 80 Prozent. Damit geht im Grundsatz ein Misstrauen gegenüber friedlichen Lösungen einher: 47 Prozent aller befragten Palästinenser unterstützen laut der Befragung friedlichen Widerstand als beste Lösung für den Konflikt mit Israel, 53 Prozent die Rückkehr zu einer dritten Intifada (also einer bewaffneten "Erhebung" gegen Israel). Eine Aufschlüsselung zwischen Westjordanland und Gazastreifen gibt es für diese Zahlen leider nicht.

Allerdings: Lange nicht alles dreht sich beim palästinensischen Blick auf Besatzung und Alltagsprobleme um Israel. Als "Gründe, wieso sich die Dinge in die falsche Richtung bewegen", nannten knapp mehr als 40 Prozent der Menschen im Gazastreifen in der Befragung des Doha Institute 2022 die "schlechte Wirtschaftssituation". Auf Platz zwei folgt mit knapp unter 20 Prozent die "schlechte und instabile politische Situation", erst danach wird die "Besatzung durch Israel" genannt. Auch hier allerdings gibt es einen Unterschied zu den Zahlen des Palestinian Center for Policy and Survey Research und der Adenauer-Stiftung. Dort nennen mit 36 Prozent die im Verhältnis meisten Menschen im Gazastreifen "die Besatzung" als größtes Problem, danach folgen Arbeitslosigkeit (24 Prozent) und die interne Spaltung zwischen Westjordanland und Gaza (22 Prozent). Die Befragung gibt auch Auskunft über eines der Erfolgsrezepte der Hamas: Nur etwa zehn Prozent nennen im Gazastreifen Korruption als großes Problem – gegenüber 30 Prozent im Westjordanland.

Fazit

Was können uns diese Zahlen sagen? Die schwierigen Umstände der Datenerhebung und auch die Tatsache, dass die Zahlen der Institute teils deutlich auseinandergehen, lassen Skepsis gegenüber der Genauigkeit der Aussagen aufkommen. Sowohl hinsichtlich der Zeit seit 2011 als auch aller drei Befragungen zeigt sich, dass die Ansichten der Hamas bei weiten nicht die einer kleinen Minderheit im Gazastreifen sind. Die Erhebungen machen aber auch deutlich, dass weder die Hamas noch andere radikale Gruppen völlige Unterstützung erfahren. Vielmehr deuten die Zahlen an, dass sich eine ungefähre Zustimmung auf rund die Hälfte der Bevölkerung belaufen dürfte. Größere Gruppen unterstützten im Befragungszeitraum auch weiterhin gewaltlosen Widerstand als die beste Lösung. Und auch wenn die Zustimmung zu Gewalt gegen Israel alles andere als ein Minderheitenprogramm ist, galt eine unmittelbare Eskalation noch vor zwei Monaten als wenig populär. Völlig offen bleibt bei alldem, wie die Ereignisse der letzten Wochen – der blutige Terror der Hamas gegen Zivilisten, die Bombardierungen durch Israel – die Ansichten verändert haben. (Noura Maan, Manuel Escher, 20.10.2023)