Soldaten in einem Waldstück in der Ukraine.
Zuletzt hat sich der Schwerpunkt der Kämpfe in den Osten und Nordosten der Ukraine verlagert, wo diese Soldaten stationiert sind – zuungunsten Kiews, dessen Gegenoffensive im Süden stockt.
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Wieder einmal ist es das Adjektiv "symbolisch", das die Bedeutung einer ukrainischen Stadt für beide Kriegsparteien charakterisiert. War es im Frühling Bachmut, das nach monatelangen Gefechten in die Hände Russlands fiel, wird nun seit einer Woche intensiv um die vor allem symbolisch, aber auch strategisch wichtige Industriestadt Awdijiwka im Donbass gekämpft. Während sich die Welt für einen Moment von dem mehr als 600 Tage dauernden russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine ab- und dem Krisenherd Nahost zugewandt hat, ist die russische Armee wieder in den Angriffsmodus übergegangen.

"Russland hat höchstwahrscheinlich eine koordinierte Offensive an mehreren Achsen im Osten der Ukraine begonnen", erklärte das britische Verteidigungsministerium am Dienstag. Tatsächlich hat sich der Schwerpunkt der Kämpfe zuletzt vom Süden in den Osten und Nordosten verlagert. Sowohl die Invasoren als auch die Verteidiger kämpfen in diesem Herbst nicht nur – unter hohem Blutzoll – um jeden Quadratkilometer, sondern auch um das Momentum: Beide wollen dem Krieg vor dem nahenden Winter noch einmal ihren Stempel aufdrücken. Und das mit aller Macht.

Video: Die Ukraine hat nach Angaben von Präsident Wolodymyr Selenskyj erstmals US-Raketen mit großer Reichweite vom Typ ATACMS eingesetzt.
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Stachel im Fleisch

Für Moskaus Kriegsstrategen wäre Awdijiwka dafür ein ideales Ziel. Bis heute ist die einst von 32.000 Menschen bewohnte Stadt im Donbass schließlich ein Stachel im Fleisch der russischen Invasoren. Gerade einmal 15 Kilometer sind es von dort aus nach Donezk, in die Hauptstadt der gleichnamigen sogenannten Volksrepublik, die schon seit 2014 unter der Kontrolle prorussischer Milizen steht. Awdijiwka vermochten die von Moskau gesteuerten Separatisten freilich nie einzunehmen. Rund um die heute weitgehend zerstörte Stadt zieht sich ein Gürtel aus Kokereien und Kohlebergwerken, seit 2014 hat die Ukraine sie zur Festung ausgebaut.

In den vergangenen Monaten, als sich die ukrainische Gegenoffensive vor allem auf den Zentralraum weiter südlich konzentrierte, hat die russische Armee Awdijiwka aber einem Hufeisen gleich umzingelt. Seit dem Sommer wies die ukrainische Armeeführung auch mit Blick auf den Westen, der sich zunehmend ungeduldig gab, was den Fortschritt der Gegenoffensive im Süden betraf, auf die Gefahr hin, die Russlands Truppen im Nordosten darstellen. Sie sollte recht behalten.

Seit dem 10. Oktober rücken russische Panzer von Norden und Süden gegen Awdijiwka vor, einen "Kamikaze-Angriff" nannte die US-Zeitschrift Newsweek die hektisch durchgeführte Offensive, was einerseits dem zunehmend schlechteren Wetter geschuldet sein dürfte, andererseits politischem Druck: Die Eroberung Awdijiwkas würde der Weisung von Präsident Wladimir Putin entsprechen, bis Ende Oktober eine Stadt zu erobern, die bisher noch in ukrainischer Hand ist – so wie es davor bei Bachmut der Fall war.

Hohe Verluste

Die Verluste auf russischer Seite sind aber schon jetzt groß: Dutzende Kampfpanzer, so schätzen Fachleute, wurden in der vergangenen Woche in dem flachen, gut einsehbaren Landstrich zerstört. Hunderte, wenn nicht tausende russische Soldaten sollen getötet worden sein. Gleichzeitig wird die ukrainische Bastion im besetzten Donbass beschossen: "Awdijiwka steht in Flammen", hieß es am Samstag.

Doch bisher hält die Festung den russischen Attacken stand. Putin deutete die strauchelnde Offensive seiner Truppen angesichts der großen Verluste am Sonntag kurzerhand in "aktive Verteidigung" um.

Oleksandr Syrskyj, der Kommandant der ukrainischen Bodentruppen, rechnet nach einer Kampfpause zu Wochenbeginn mit neuen russischen Angriffen – und weist auch auf die weiter im Norden gelegene Linie Kupjansk-Lyman hin, wo Russland versuchen dürfte, die im Vorjahr von Kiew zurückeroberten Städte abermals einzunehmen.

Die Ukraine hingegen meldete am Dienstag Angriffe auf russische Luftwaffenstützpunkte hinter der Front, neun Hubschrauber sollen zerstört worden sein. Kiew zufolge kamen dabei erstmals die von den USA gelieferten ATACMS-Kurzstreckenraketen zum Einsatz. Doch reichen solche spektakulären Erfolge, um das Momentum wieder auf Kiews Seite zu bringen?

Gefährlicher Stillstand

Markus Reisner ist skeptisch. "Trotz aller Verluste der Russen steht die Ukraine vor dem Dilemma, kaum mehr über kampfkräftige Reserven zu verfügen", sagt der Analyst von der Theresianischen Militärakademie. "Die Ukraine muss vor der Schlammperiode zeigen, dass sie noch in der Lage ist zu handeln. Jeder Stillstand bedeutet einen Vorteil für Russland." Die vom Westen mit Kampfpanzern und anderen Waffen unterstützte Gegenoffensive betrachtet er als gescheitert.

Kiews Ziel müsse nun sein, sich zu konsolidieren, damit man den Winter übersteht, der abermals russische Luftschläge gegen die Energieinfrastruktur bringen wird – auch mithilfe von Drohnen. (Florian Niederndorfer, 18.10.2023)