Alexander Grothendieck, auf der linken Seite, spricht in den 1960er-Jahren mit seinem Kollegen Laurent Schwartz in Bure-sur-Yvette im Südwesten Frankreichs.
AFP

Alexander Grothendieck erzählt, dass er Mathematik als Zwölfjähriger in einem Konzentrationslager in Frankreich kennenlernte. Grothendieck stammte aus Berlin, seine Familie – seine Eltern waren bekennende Anarchisten, sein Vater jüdischer Abstammung – musste 1933 vor den Nazis fliehen. 1940 wurden sie in Vichy in ein Lager gebracht, dort erzählte ein Mädchen namens Maria dem jungen Alexander von der mathematischen Definition eines Kreises als eine Menge von Punkten, die denselben Abstand von einem Mittelpunkt haben. Das Erlebnis prägte ihn und wurde zum Ausgangspunkt einer der bemerkenswertesten Mathematikerkarrieren des 20. Jahrhunderts.

Über das Leben im Lager Rieucros schrieb Grothendieck später in einem Text namens "Récoltes et Semailles", die Leitung habe eine Schwäche für Kinder gehabt, er konnte eine knapp fünf Kilometer entfernte Schule besuchen. Sein Text hält sich auch nicht lange mit dem Lager auf, stattdessen kritisiert Grothendieck sein damaliges Lehrbuch und berichtet, von seinem Lehrer ungerecht behandelt worden zu sein. Sein Vater hingegen wurde 1942 nach Auschwitz gebracht und dort ermordet. Grothendieck floh aus dem Lager und lebte versteckt im Dorf Le Chambon-sur-Lignon.

Nach dem Krieg studierte er in Montpellier, das damals kein wichtiges Zentrum für Mathematik war. Von dort ging der junge Grothendieck nach Paris, wo er ein inspirierendes Umfeld vorfand. Da begann sein kometenhafter Aufstieg. Fünfzehn Jahre dauerte seine mathematische Karriere, die 1966 mit der Fieldsmedaille, der höchsten Auszeichnung der Mathematik, gekrönt wurde. Dabei soll er sieben Tage die Woche unermüdlich gearbeitet haben.

Alexander, der Baumeister

Grothendieck verglich seinen Zugang einmal mit dem Bauen eines Hauses. Während an mathematischen Theorien oft Schritt für Schritt gearbeitet wird, vergleichbar mit einer Renovierung oder einem Ausbau, sah er es als seine Aufgabe, Theorien von Grund auf neu zu errichten. Er hinterfragte dazu die Definitionen von Theorien und versuchte herauszufinden, ob es geeignetere gäbe, aus denen die Ergebnisse der Theorie in natürlicher Weise folgten. Der Zugang war so erfolgreich, dass Grothendieck heute als einflussreichster Mathematiker der 20. Jahrhunderts gilt. Der Logiker Colin McLarty sagte einmal: "Viele Menschen leben heute in Grothendiecks Haus, ohne es zu wissen."

Als seine wichtigste Arbeit gelten seine Beiträge zur algebraischen Geometrie. Dabei geht es, grob gesprochen, darum, Gleichungen anhand ihrer geometrischen Eigenschaften zu untersuchen. André Weil und Oscar Zarinski hatten das Gebiet begründet, allerdings war die richtige Formulierung der Grundlagen noch unklar. Durch Beiträge Grothendiecks wurden diese geklärt, wodurch eine Fülle von Querverbindungen zu anderen mathematischen Gebieten auftauchte, unter anderem zur Topologie. Solche Verbindungen sind von enormem Wert, kann doch auf diese Weise auf bereits bewiesene Sätze zurückgegriffen werden.

Auszeichnung als Wendepunkt

Was nach dem Erhalt der Fieldsmedaille 1966 genau passierte, ist bis heute nicht genau geklärt. Beim Nobelpreis ist bekannt, dass er oft negative Auswirkungen auf die Karrieren von Forschenden hat. Die Fieldsmedaille darf aber nur an Personen unter vierzig verliehen werden, um genau das zu verhindern. Bei Grothendieck scheiterte diese Strategie, seine offizielle Karriere dauerte genau noch vier Jahre. Er beschäftigte sich zunehmend mit Umweltthemen, wurde 1968 Vegetarier und soll seiner Frau verboten haben, ein Auto zu verwenden.

1970 zog er sich aus der mathematischen Forschung zurück und gründete die aktivistische Gruppe "Survivre et Vivre", die im weitesten Sinn Umweltaktivismus zum Ziel hatte. Als einen der Gründe für den Rückzug aus der Forschung nannte er, dass ein Teil des Forschungsgeldes, das ihn finanzierte, vom Militär stammte. Er animierte Kollegen, der Mathematik ebenfalls den Rücken zu kehren. Sie halte einen nur davon ab, das zu tun, was eigentlich nötig wäre. Menschen in Wissenschaft und Mathematik nannte er die gefährlichsten des Planeten, denn sie würden destruktive Macht in die Hände von Politikern legen.

Dem Scheitern dieser Bewegung folgte eine kurze Rückkehr in die Mathematik, doch seine tiefgehenden Studien wurden kaum beachtet und blieben unveröffentlicht. Danach brach er den Kontakt zur Mathematikgemeinschaft, zu seiner Frau und zu seinen Kindern ab und tauchte unter. Ab dem Jahr 1985 begann er, Freunden und ehemaligen Kollegen umfangreiche Manuskripte zu schicken.

Alexander Grothendieck bei einem Vortrag während einer Konferenz in Bure-sur-Yvette im Südwesten Frankreichs.
AFP

Auf eines davon wurde die Mathematikerin Leila Schneps aufmerksam. Sie war fasziniert, und 1992 versuchte sie mit ihrem Fachkollege Pierre Lochak, den schwer greifbaren Autor aufzuspüren. Sie folgten seiner Spur in eine Gegend in den Pyrenäen, nicht weit von dem Gebiet, in dem Grothendieck als Jugendlicher Schutz gesucht hatte. Dort stießen sie auf mehrere Einsiedler und schließlich auch Grothendieck, der mit langem Bart einsam in einer Hütte lebte.

Er war getrieben von der Idee des Bösen und dass es überwindbar wäre, wenn man sich nur gemeinsam intensiv genug damit befasse. Daneben erzählte er Schneps und Lochak verschiedenste Dinge, darunter dass Pflanzen kommunizieren könnten, sprach allerdings nie über Mathematik. "Manchmal war er so nett. Manchmal klopften wir an seine Tür und er schlug sie uns vor der Nase zu, oder er sagte uns, wir seien Boten des Satans", erzählte Schneps später. Sie besuchten ihn fortan jährlich. Dass er verrückt sei, stellte Schneps in Abrede.

Vermächtnis

Scheps und Lochak gründeten später einen Klub, der sich zum Ziel setzte, möglichst viel von Grothendiecks Arbeiten der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Einige finden sich online auf dessen Website. Ende September wurden in Paris weitere zehntausende Seiten von Grothendiecks Schriften aus der Zeit zwischen 1987 und 1988 der Öffentlichkeit präsentiert. Sie handeln von Mathematik, Metaphysik, enthalten eine Autobiografie und sogar lange Betrachtungen über den Teufel.

Nun erhielt die französische Nationalbibliothek BnF von seinen Kindern die Originale, die teils mit Füllfeder geschrieben waren, nachdem Grothendieck Teile davon zuvor selbst der Bibliothek vermacht hatte. Er selbst scheint einer Veröffentlichung kritisch gegenübergestanden zu sein. Das legt ein Brief aus dem Jahr 2010, vier Jahre vor seinem Tod, nahe.

Die Geister der Vergangenheit, von denen sich Grothendieck im Lauf seiner glänzenden Karriere scheinbar so spektakulär befreit hatte, ließen ihn letztlich doch nicht los. Sein ganzes Leben lang behielt er seinen Nansen-Pass, ein Dokument für Staatenlose und Flüchtlinge, die von staatlichen Stellen sonst keine Reisedokumente erhalten. Die Mathematik hatte ihm nur vorübergehend eine Heimat geboten, auch wenn er das Haus, das er dort baute, selbst nur für kurze Zeit bewohnte. (Reinhard Kleindl, 21.10.2023)