Die Reise in die Vergangenheit musste fossil erfolgen, Autorin Sara Geisler auf ihrem Motoroller auf dem Tempelhofer Feld in Berlin
Rasmus Kjelsrud

Bevor ich die SIM-Karte aus dem iPhone entfernte und mich damit aus der Gegenwart, gab ich meinen Eltern Bescheid. Außerdem warnte ich meine Freundinnen und Freunde, die ich ab jetzt nur noch Freunde nennen würde, der Einfachhalt halber, denn das war das Ziel der Übung.

Wir schrieben das Jahr 2023. Die Welt zerfiel gerade, und weil ich hörte, dass früher alles besser war, beschloss ich, einfach dorthin zu gehen. Vor der Ampelkoalition, sagte die Nachbarin in Berlin.
Vor der Diagnose, sagte meine Mutter in Tirol.
Bevor sie uns die Strohhalme wegjenommen haben, schimpfte ein Typ am Kiosk.
Je mehr Menschen ich fragte - Wann war früher? Wie viel früher war früher? -, desto mehr Variablen taten sich auf. Der eigene Zeitstrahl schien integral, manchmal exponentiell mit dem früher verknüpft. Ich kam auf mehrere Formeln. Die einfachste geht so: das Jahr der eigenen Zeugung minus zwei Steuerquartale.
"Zurück zu den Leggins", sagte ich und prostete in die Runde. "1988!"
Erst einmal für eine Woche, erklärte ich meinen Kollegen, vielleicht für immer. Ich rechnete mit Widerworten, aber alle nickten nur verständnisvoll.

Das alte Neue

Sind Menschen mit Neuem konfrontiert, neigen sie dazu, sich an Dinge der jüngsten Vergangenheit zu klammern. Sie schauen durch einen Rückspiegel auf die Gegenwart. Gesagt hat das Marshall McLuhan, ein vielzitierter Medientheoretiker, zu viel vielleicht. Kurz vor Abreise aber wollte ich mich nur noch bei Denkern bedienen, die mir auch ohne Google einfielen. Da war außerdem: Winston Churchill. "Prognosen sind schwierig, vor allem wenn sie die Zukunft betreffen." Auch Mark Twain hat das gesagt, Karl Valentin, und großzügig, wie man damals war, noch manch anderer, auf jeden Fall war es ein Mann, und da ich in die Vergangenheit musste, passte das gut. In dem Zusammenhang kam mir Matthias Horx in den Sinn. Der Zukunftsforscher hat eine Methode namens Regnose erfunden: Man projiziert sich selbst in die Zukunft und blickt auf die Gegenwart zurück. Das war zwar nicht ganz, was ich vorhatte, aber irgendwie doch, und so zog ich meinen letzten Joker und suchte seine Nummer im Netz.

"Da werden Sie grandios scheitern", raunte Horx. Er saß gerade in seinem Büro in Wien.
"Ihre Technik - was bringt die?", fragte ich.
"Die meisten Menschen denken linear", sagte Horx. "Sie sehen die Zukunft wie einen Zug, der auf sie zurast."
Sorgen würden so zu Prophezeiungen verhärten und wir jene Zukunft produzieren, die wir fürchten. Blickten wir dagegen zurück, wären wir weniger von Ängsten getrieben. Nach meiner Rückkehr, bot Horx an, könnten wir meine Beobachtungen gemeinsam deuten. Er referierte noch ein wenig über Hegel, jeder Trend provoziere einen Gegentrend, und wünschte mir eine gute Reise.

Sarah Geisler
Rasmus Kjelsrud

Ich richtete eine Abwesenheitsnotiz ein und druckte alle Telefonnummern aus. Es waren 31 Seiten. Den Laptop legte ich in eine Kiste. Aus der untersten Schreibtischschublade barg ich mehrere Festplatten, zwei alte iPhones - und ein Nokia-Handy. Ich friemelte meine SIM-Karte in das viel zu große Fach und hängte das Gerät an den Strom. Zufrieden betrachtete ich die Installation: Dies also war nun mein Festnetzanschluss. Ich überschlug, wie viele Stunden ich ohne den ganzen Krempel würde sparen können, und entsorgte des Weiteren: eine halbe Avocado, eine Packung Hafermilch, ein Buch über Polyamorie, Melatonintropfen und Vitamin B12, einen sogenannten Womanizer und diverse Seren.
Als Letztes steckte ich das Modem ab. Das Lämpchen erlosch nach einer Sekunde, ich aber atmete einfach weiter.

Die Vergangenheit bei Löskaffee

Dem Spiegel erklärte der Schriftsteller Doron Rabinovici vor fünf oder zehn Jahren (ab hier sind alle Angaben geschätzt): Die Deutschen blicken voller Pessimismus in die Zukunft, die Österreicher voller Optimismus in die Vergangenheit. Ich fand mich in beidem wieder und lief auf die Straße.
Ohne vorher anzurufen - ein Novum -, klingelte ich bei meiner Freundin Teresa. Ob ich etwas bei ihr unterstellen könne? Teresa öffnete im Pyjama. Sie beugte sich über die Kiste, Kabel quollen heraus, und zuckte mit den Schultern. Eigentlich wollte sie gerade die Haare nachfärben - auch das war mir neu -, aber jetzt stellte sie zwei Gläser auf den Tisch, und dann erzählten wir uns Dinge, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sind und die auch wir nie erfahren hätten, zumindest nicht so ausführlich, wären wir nicht zusammen in einer Küche gesessen, sondern jede zu Hause vor ihrem Handy. Diese Vergangenheit begann mir zu gefallen.

Von Ilona lieh ich mir einen Discman, von Philipp einen Sack CDs und ein Radio. Via Kleinanzeigen erstand ich eine Schreibmaschine, eine Olympia Traveller de Luxe. Die Vorbesitzerin konnte nicht fassen, dass das Ding jemand haben wollte, und lud mich auf einen Löskaffee zu sich herein.
Über die Geschichte ihrer Schreibmaschine wusste Frau S. nur wenig zu berichten - Jugoslawien wahrscheinlich -, über die 80er dafür umso mehr. Frau S. lebte damals in Ostberlin und entwickelte Lernmaterialien. Zwar war sie kein Parteimitglied und, soweit ich heraushören konnte, auch sonst kein Fan der DDR. Eines aber wurmte sie.

"Es ist so einfach zu berechnen, wie viele Lehrer ein Land braucht", sagte Frau S. "Man muss doch nur die Demografie anschauen!"
"Sie meinen, man hat früher vorausschauender geplant, mehr Wert auf Bildung gelegt?"
"Ja! Wie viele Schulplätze brauchen wir in fünf Jahren? Und was müssen die Kleinen wissen, um in der Welt zurechtzukommen?"
Frau S. begleitete mich noch die Treppen hinunter, die Straße entlang und quer über den Parkplatz, so viel gab es zu sagen. Bei meinem Roller angekommen - inzwischen bewegte ich mich einzig fossil fort -, klemmte ich die Schreibmaschine zwischen die Beine. Mein zukünftiges Ich, wusste ich jetzt, war überinformiert und unterbildet.

Sara Geisler
Rasmus Kjelsrud

Zu Hause fummelte ich ein neues Farbband in die Schreibmaschine und einen Bogen Papier um die Walze.

Wenn ich ehrlich bin:

[ZEILENUMBRUCH]

Macbook war geiler

Ich hämmerte noch ein bisschen auf den Tasten herum, wobei ich mich auf Wörter ohne S beschränkte; es verhakte sich ständig mit dem A und dem D. Bald aber zog es von den Gelenken her die Arme hinauf. Ich lehnte mich zurück und griff an die Gesäßtasche. Da war nur mein Po. Kurz hielt ich inne, dann fingerte ich in einer Lade nach Zigaretten.

Atempause mit Tschick

Sechs Monate hatte ich ausgehalten, dann hie und da ein Zug. Jetzt aber war ich in den 80ern: Beim Schriftzug angekommen, zündete ich an der Restglut gleich die nächste an. Hach, dachte ich, der Genuss am Verbot. Der Qualm fühlte sich erhaben an und, obwohl ich es besser wusste, sogar recht gesund. Kleine Staubteilchen schwebten in der Luft. Die Übergänge, wurde mir da klar, diese Minuten zwischen dem Nachhausekommen und dem Aufräumen, dem Streiten und dem Zubettgehen, ich hatte sie zurückerobert. Füllte ich einst jede Lücke mit Fotos und Clips, konnte mein Geist jetzt wandern.
Am nächsten Morgen kratzte mein Hals. Die Notizen vom Vortag? Auch völliger Unsinn. Macbook war geiler? So hat in den Achtzigern doch niemand gesprochen!

In meinem Telefonbuch fand ich die Nummer von Anatol Stefanowitsch. Vor Jahren mal hatte ich den Sprachforscher zu Emojis interviewt. Ich sprang in die Karottenhose und schlüpfte in einen Blazer. Beim Hinausgehen bewunderte ich meine Schultern im Spiegel. Was mein Kleiderschrank nicht alles bot!
Diesmal trafen wir uns nicht in Prenzlauer Berg - Ostberlin war für mich tabu -, sondern vor einem Solarium im Wedding, und musste ich beim letzten Mal warten, kam der Forscher jetzt auf die Minute genau. "Verabredungen", sagte er und bedeutete mir mitzuschreiben, "waren früher bindend." Wir spazierten Richtung Süden. An der Bernauer Straße setzten wir uns vor einen Backshop und schauten auf die andere Seite: Ein paar rostige Metallstangen, sonst war von der Mauer nichts mehr zu sehen.

Oberaffengeilomat

"Geil", sagte Stefanowitsch. "Nein, das Wort klang damals schlüpfrig. Man hat obergeil gesagt oder oberaffengeil, gern auch astrein oder galaktisch."
"Kommen diese Worte wieder?", wollte ich wissen. Stefanowitsch schüttelte den Kopf. "Revivals wie in der Mode" - er zeigte auf meine Schultern - "gibt es in der Sprache nicht. Es steckt keine Industrie hinter den Trends."
"Und wohin entwickelt sich die Sprache gerade?"
"Sie stagniert."
Ich legte den Kopf schief.
"Ein paar Lehnwörter, ja, nice, cringe, aber die meisten setzen sich nicht durch. Der Wandel verlangsamt sich."

Gab es früher Hippies und Punks, erklärte Stefanowitsch, spalte sich die Gesellschaft heute in so viele Subkulturen, dass kulturell nicht mehr viel passiere: Ob Musik oder Film, gerade würden Künstlerinnen und Künstler, wie der Sprachforscher sagte, vor allem Dagewesenes kopieren. Typisch für den Postmodernismus: Das Gefühl, alles Erreichbare sei schon erreicht. "Für einen Kulturwandel", schloss er, "braucht es eine kollektive Kraftanstrengung. Individualität als höchstes Gut verhindert das."

Wieder zu Hause hörte ich ein Album von Paul Simon: The way we look to a distant constellation / That’s dying in a corner of the sky / These are the days of miracle and wonder / And don’t cry baby, don’t cry.
Als die CD wieder von vorn losging, überkam mich Unruhe. Oder hatte ich einfach nur Hunger? Ich dachte an Paul Simon - This is the long distance call - und griff zum Hörer.

Sara Geisler
Rasmus Kjelsrud

In Salzburg erreichte ich Felix, einen galaktischen Koch. Er gab mir ein paar Tipps (Schichtsalat, Dosenfrüchte) und die Nummer seiner Großmutter: Karola Schellhorn, Mutter eines Politikers, viel wichtiger aber: in den 80ern Küchenchefin im Seehof in Goldegg. Wenn eine weiß, wie man sich seinerzeit gönnte, dann sie.

Es klingelte eine Minute, Frau Schellhorn ist 83, dann tönte aus dem Hörer: "Jo?"
"Do is de Geisler Sara", sagte ich. "A Freindin vom Felix."
In Zeiten der Festnetztelefonie musste man sich immer erst mal vorstellen. Von Karola erfuhr ich, dass man früher grundsätzlich genügsamer aß. Des, wos der Bodn herbrochd hod. Fleisch? Nur sonntags. Und was genau, wollte ich wissen, hatte man sich da so gekocht?
"An Stefanibraten hoid," sagte Karola und diktierte mir aus dem Kopf ein Rezept.

Weil die Mengenangaben fehlten, wurde es nicht ein Braten, sondern drei. In den schönsten steckte ich ein paar Geburtstagskerzen und machte mich auf den Weg zu Nadja. Bei ihr hörte ich von einem Heft, das ich unbedingt lesen müsse: Tempo, Dezember 88.
Tags drauf rief ich bei der Auskunft an und ließ mir die Nummer der Staatsbibliothek geben. Die Bibliothekarin recherchierte den Titel („So waren die 80er. Das Spaßjahrzehnt“) und verwies mich auf die Universität der Künste. Ich fuhr ans andere Ende der Stadt, wo eine Dame erneut für mich suchte. Leider aber hatte man das Heft doch nicht im Bestand. Man solle es im Archiv der Jugendkulturen versuchen. Als ich dort zum Stehen kam, drei Stunden waren vergangen, war zu. Tja, dachte ich, so waren die 80er.

Wie geht's jetzt weiter?

Nach Hause wollte ich nicht, also fuhr ich zum Tempelhofer Feld. Wo einst die Rosinenbomber landeten und Westberlin mit Essen versorgten, tummeln sich heute die jungen Leute. Auch an diesem Abend saßen Grüppchen überall. Spürte ich früher einen Anflug von Einsamkeit, nahm ich einfach mein Handy zur Hand. Ich verschickte ein Meme oder ein Lied, und oft wurden erhellende Gespräche daraus, kleine Snacks, die meine Stimmung sogleich hoben. Vielleicht aber, grübelte ich jetzt, verdirbt mir das Snacken den Hunger. Ich kaufte zwei Biere und klingelte bei William. Er war nicht zu Hause. Ich klingelte bei Elena, keiner da. Schließlich setzte ich mich ins Kino. Es lief ein finnischer Film, und ich ging nach der Hälfte.

Am nächsten Morgen, die erste Woche war fast vorbei, packte ich meinen Koffer. In Wien, sagte ich mir, könnte ich persönlich mit dem Zukunftsforscher sprechen. In Wahrheit hatte ich Heimweh. Die Zugfahrt dauerte zehn Stunden, ein Umstieg in Prag. Ich schoss ein paar Fotos, schrieb zwei Karten und kaufte, ohne den Umrechnungskurs zu kennen, meine Tasche mit tschechischen Süßwaren voll. Um es abzukürzen: In Wien angekommen, hatte der Zukunftsforscher Corona. Anstatt das Morgen zu prognostizieren, fuhr ich mit einer alten Freundin in die Weinberge.

Wir liefen zu einem Heurigen hoch, da rief Britta "Schau mal!" und deutete auf ein Häuschen. Bei Jupiter! Dort, am Fuße des Nußbergs, stand eine Telefonzelle. Ich lief sofort hin und hielt den Hörer ans Ohr: Freizeichen. Das Ding funktionierte! Wen wollte ich als Erstes anrufen, endlich, von unterwegs? Dann zögerte ich. Was wollte ich überhaupt erzählen, in diesem Moment? Dass die Sonne scheint? Dass sie für Oktober viel zu heiß scheint? Dass ich keine Ahnung habe, wie es jetzt weitergeht?
Beschrieben, dachte ich, ist die Welt eine andere. Ich hängte den Hörer auf die Gabel und schaute durch das Plexiglas nach draußen. Da stand meine Freundin, fast reglos, und streckte ihr Gesicht in die Sonne. Ich hakte mich bei ihr unter. Und dann wanderten wir einfach den Hügel hinauf. (Sara Geisler, 21.10.2023)