Wie viel wiegt ein schlechtes Gewissen? Ziemlich exakt 8,7 Tonnen. Für so viel CO2 ist ein Mensch in Österreich im Durchschnitt pro Jahr verantwortlich.

Wie viel kostet ein gutes Gewissen? 200 Euro. Für so viel kann man diese 8,7 Tonnen bei einem bekannten Anbieter von CO2-Ausgleichszertifikaten kompensieren.

Es klingt ganz praktisch: Man zahlt seinen Obolus, lehnt sich zurück und genießt ein Jahr klimaneutrales Leben. Ist das schlechte Gewissen damit bereinigt? Nein, wie ein Bericht des Guardian aufdeckte. Die Zeitung hat die 50 weltweit größten Kompensations­projekte untersucht und ist zu dem Schluss gekommen, dass die meisten sinnlos sind. Die Zeit wiederum machte für eine Recherche vergangenes Jahr ein fiktives Blumengeschäft durch Zahlungen an das Unternehmen Climate­partner klimaneutral – und finanzierte damit vor allem die Firma selbst anstatt Klimaschutzprojekte.

Polnisches Kohlkraftwerk Belchatow
Firmen versuchen sich mit Zahlungen an Kompensationsprojekte grüner zu machen.
REUTERS/KUBA STEZYCKI

Wald allein ist noch kein Verdienst

Auf dem Papier klingt das System der CO2-Kompensation einfach. Unternehmen oder Privatpersonen, die Treibhausgase verursachen, etwa durch die Herstellung von Produkten oder eine Flugreise, zahlen dafür, dass die gleiche Menge CO2 an anderer Stelle wieder eingefangen oder vermieden wird. In der Regel passiert das im Globalen Süden, wo dieser Ausgleich weniger kostet. Schließlich ist es dem Klima egal, wo eine Tonne CO2 entsteht – und deshalb auch, wo sie nicht entsteht.

Mit dem eingesammelten Geld werden so nachhaltige Treibstoffe produziert, Photo­voltaikanlagen gebaut, Mülldeponien modernisiert oder Wälder unter Schutz gestellt, damit sie nicht abgeholzt werden, sondern weiterhin CO2 speichern.

Vor allem in letzteren Projekten sehen viele Fachleute das grundlegende Problem von CO2-Kompensationen. Denn einen Wald stehenzulassen speichert per se noch keine zusätzlichen Emissionen. Projektentwickler argumentieren, dass sie Waldflächen in Gebieten schützen, in denen stark abgeholzt wird. Anhand der Entwaldung in der Region wird hochgerechnet, wie viele Bäume im Schutz­gebiet gerodet worden wären – und wie viel CO2 dabei entstanden wäre.

Überschätzte Abholzung

Doch diese Berechnungen stehen teilweise auf wackligen Beinen. Recherchen von Follow the Money Anfang dieses Jahres legen nahe, dass der CO2-Händler South Pole die vermiedene Entwaldung extrem überschätzt habe. Dadurch sollen beim Waldschutzprojekt Kariba in Zimbabwe, einer der größten Kompensationsflächen der Welt, 27 Millionen Tonnen CO2 bloß auf dem Papier existieren. Laut dem Unternehmen sei kein Schaden entstanden, da noch nicht alle Zertifikate verkauft waren. Die Menge an Papieren wurde auf Basis der neuen Informationen nun reduziert. Ein "selbstkorrigierender Mechanismus", wie es auf der Website von South Pole heißt.

Viele Kompensationsprojekte setzen auf Aufforstung oder Waldschutz
REUTERS/ALEXANDRE MENEGHINI

Aber auch bei anderen Projekten stellt sich die grundsätzliche Frage der "Zusätzlichkeit", nach der die Wissenschaft und auch Güte­siegel Ausgleichsprojekte bewerten: Wäre das Windrad nicht ohnehin gebaut worden, einfach weil es eine gute Investition ist? Würde der Wald in einem Gebiet nicht auch ohne Zertifikate nachwachsen, etwa weil eine Regierung Aufforstung per Gesetz vorschreibt?

Sebastian Heinzel hat sich mit dieser Kritik an den Ausgleichspapieren eingehend beschäftigt. Er ist CEO der Heinzel Group, einem der größten Papierhersteller Österreichs in dritter Generation, und ist gerade dabei, groß in den CO2-Handel einzusteigen. In Paraguay wird er mit Partnern eine Zellstofffabrik ­bauen. "Das ist die erste Zellstofffabrik des 21. Jahrhunderts, die ohne Erbsünde errichtet wird", sagt Heinzel. Denn im 20. Jahrhundert sei bei neuen Anlagen in Ländern wie Indonesien oder Brasilien zunächst der nächstgelegene Urwald abgeholzt worden. Hier soll es anders sein.

Papier und Kohlenstoff

Die Zellstofffabrik entsteht mitten in 200.000 Hektar degradiertem Weideland. In den nächsten Jahren soll die Hälfte davon – mehr als die doppelte Fläche Wiens – mit Eukalyptus aufgeforstet, die andere Hälfte der Natur überlassen werden. In sieben Jahren soll dieser Forst 20 bis 25 Millionen Tonnen CO2 speichern, da wäre ein Viertel bis ein Drittel der jährlichen CO2-Emissionen Österreichs.

Nach der Ernte soll die Fläche erneut bepflanzt werden – weshalb die gespeicherte Menge konstant bleibe. Deshalb sei nach dem einmaligen Verkauf der Zertifikate aber auch Schluss. Ohne die zusätzlichen Einnahmen aus dem CO2-Handel wäre das Projekt jedenfalls nicht finanzierbar, sagt Heinzel.

Ein Gewinn für das Klima also? Das hängt nicht nur davon ab, wie, sondern auch davon, was kompensiert wird. In den Niederlanden hat der Ölkonzern Shell an seinen Tankstellen angeboten, die Emissionen, die aus dem getankten Benzin und Diesel entstehen, zu kompensieren – für bloß einen Cent. Gleichzeitig warb Shell damit, Autofahren so CO2-neutral zu machen. Die Werbeaufsicht untersagte den Claim, worauf der Ölkonzern seine Treibstoffe nunmehr als "CO2-kompensiert" anpries. Doch auch damit kam Shell nicht durch. Jede Behauptung, dass die Klima­schäden durch fossile Brennstoffe wegkompensiert werden können, sei falsch, klagte der niederländische Rechtsprofessor Clemens Kaupa. Die Behörde gab ihm recht.

Wo Kompensation Sinn ergibt

Doch wenn sich Shell und andere Unternehmen nicht mehr mit Ausgleichszahlungen grün kaufen dürfen, dürfen wir es dann? Als Privatpersonen, die bloß ihr schlechtes Gewissen beruhigen wollen? Darüber können keine Gerichte oder Behörden entscheiden. Doch egal, ob es um Konzerne oder Menschen mit realen Klimasorgen geht, gilt: Die Zertifikate können Fehlanreize setzen. Warum die Ölförderung drosseln, wenn man die Klimaziele mit Kompensationen so viel einfacher und günstiger erreicht? Warum aufs Flugzeug verzichten, wenn die Schäden mit einem Bruchteil des Ticketpreises reparierbar sind?

Selbst Kompensationsfirmen wie Atmosfair empfehlen deshalb, nur auszugleichen, wofür es noch keinen nachhaltigen Ersatz gibt. Einen Langstreckenflug etwa, der mangels Verfügbarkeit noch nicht mit nachhal­tigem Treibstoff erfolgen kann. Für einen Flug von Wien nach Innsbruck, Kohlestrom oder Fleisch sei Kompensation hingegen nicht sinnvoll, da einfache klimafreundlichen Alternativen heute existieren: Bahn, Ökostrom und vegetarische Kost. (Philip Pramer, 27.10.2023)