Getz-Eisschelf
Mehr als 480 Kilometer lang und bis zu 96 Kilometer breit: Das Getz-Schelfeis ist das größte antarktische Schelfeis, an dem in der Vergangenheit massive Eisverluste beobachtet wurden. Nun rückt auch das südwestlich davon gelegene Schelfeis in der Amundsensee ins Zentrum der Aufmerksamkeit.
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Egal welches Klimaszenario herangezogen wird, das für die Antarktis zentrale Schelfeis schwindet in dramatischem Tempo. Zu diesem Schluss kamen Forschende des British Antarctic Survey, des Polarforschungsprogramms Großbritanniens. Selbst wenn das 1,5-Grad-Ziel erreicht würde, könnte das Schelfeis in der westantarktischen Amundsensee komplett abschmelzen. Wegen seiner essenziellen Rolle für das in der Westantarktis gebundene Eis, könnte auch dieses schneller verloren gehen, wie aus der im Fachblatt "Nature Climate Change" publizierten Studie hervorgeht.

Schelfeise sind auf dem Meer schwimmende Ausläufer von Gletschern und Eisschilden. Sie sind mit diesen noch in Kontakt und stabilisieren sie, indem sie das Abfließen der Gletscher ins Meer bremsen. Diese Wirkung lässt jedoch nach, wenn die Eisschelfe kleiner und dünner werden, was wiederum zu einem erhöhten Verlust von Eismasse in der Antarktis führt. Das Schelfeis selbst schmilzt verstärkt an der Unterseite durch den Kontakt mit dem sich im Klimawandel erwärmenden Ozeanwasser.

Karte der Antarktis
75 Prozent der antarktischen Küstenlinie sind von Eisschelfen gesäumt. Neben den durch den Klimawandel steigenden Lufttemperaturen sind sie durch den direkten Kontakt mit dem Ozean auch von unten den steigenden Wassertemperaturen ausgesetzt.
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Kritische Kipppunkte

Der größte Anteil des globalen Landeises ist in der Antarktis gebunden. Sie ist fast vollständig mit Eis bedeckt, das an seiner mächtigsten Stelle fast 4.800 Meter dick ist. Geografisch lässt sich die Antarktis in drei Regionen einteilen: die Ostantarktis, die Westantarktis und die Antarktische Halbinsel. Die Westantarktis stellt den für die nächsten 100 Jahre am stärksten durch den Klimawandel gefährdeten Teil des südlichsten Kontinents der Erde dar.

Ein gänzliches Abschmelzen des Westantarktischen Eisschildes ließe den durchschnittlichen globalen Meeresspiegel um vier bis fünf Meter ansteigen. Es gilt daher – wie etwa das arktische Meereis und das Grönländische Eisschild – als eines der Kippelemente im Klimasystem. Sorgen bereiten der Forschung dabei einzelne Regionen, die ihren Kipppunkt überschreiten könnten: Aktuell stehen vor allem der Pine- und der Thwaites-Gletscher unter Beobachtung. Beide liegen in der Region der Amundsensee an der westlichen Küste der Westantarktis.

Thwaites-Gletscher
Der Thwaites-Gletscher in der Antarktis könnte durch das Abschmelzen des Schelfeises rapide an Masse verlieren. Im Jahr 2010 hatte er eine Ausdehnung, die etwa der Größe Floridas entsprach.
AP

In ihrer nun publizierten Studie nutzten die Forschenden ein regionales Ozeanmodell für die Amundsensee. Sie untersuchten, wie sehr sich das Wasser dort in vier verschiedenen Szenarien erwärmt und so zum Abschmelzen der Schelfeise beiträgt. Je ein Szenario stand in Einklang mit dem 1,5-Grad-Ziel und dem Zwei-Grad-Ziel. Weiters wurden die Szenarien RCP4.5, das zu einer Erwärmung von 2,6 Grad führen würde, und das als unrealistisch geltenden RCP8.5 durchgespielt. Letzteres gilt als eine Art Worst-Case-Szenario, in dem die globale Mitteltemperatur bis zum Jahr 2100 um knapp fünf Grad steigen würde.

Video: Warum ein Gletscher in der Antarktis unsere Landkarten verändern könnte.
DER STANDARD

Anpassung an steigenden Meeresspiegel

In der Studie stellen die Forschenden fest, dass in allen Varianten eine rasche Erwärmung des Meeres wahrscheinlich zu erwarten ist. Als Folge ist mit einem stärkeren Abschmelzen des Schelfeises als bisher zu rechnen. Das gilt auch für Regionen, die für die Stabilität der Eisschilde in der Westantarktis entscheidend sind. Eine erhebliche Beschleunigung der Eisschmelze lässt sich wahrscheinlich nicht mehr vermeiden, was bedeutet, dass der Beitrag der Antarktis zum Anstieg des Meeresspiegels in den kommenden Jahrzehnten rasch zunehmen könnte.

Unter Berücksichtigung der internen Klimavariabilität gibt es keinen signifikanten Unterschied zwischen den Entwicklungen für die ersten drei untersuchten Szenarien, erklärt das Wissenschaftsteam. Das deute darauf hin, dass eine Reduktion der Treibhausgasemissionen nur noch begrenzt helfen würde, die Erwärmung der Ozeane zu verhindern, die zum Zusammenbruch des Westantarktischen Eisschilds führen und zum Anstieg des Meeresspiegels beitragen könnte. Für andere Kippelemente im Klimasystem spielt eine Reduktion der Treibhausgase aber durchaus noch eine entscheidende Rolle.

Weltweit leben Millionen von Menschen in Küstennähe, und diese Gemeinden werden durch den Anstieg des Meeresspiegels stark beeinträchtigt werden. Ein besseres Verständnis der Vorgänge in der Antarktis könnte eine wesentliche Entscheidungsgrundlage für Politikerinnen und Politiker darstellen, um Schutzmaßnahmen und Anpassungsstrategien zu erarbeiten.

"Es sieht so aus, als hätten wir die Kontrolle über das Abschmelzen des westantarktischen Eisschildes verloren", sagt Kaitlin Naughten, Erstautorin der Studie. Hätte die Menschheit diesen Eisschild in seinem historischen Zustand erhalten wollen, hätte es schon vor Jahrzehnten Schritte gegen den Klimawandel gebraucht, urteilt die Forscherin des British Antarctic Survey. Noch sei aber nicht die Zeit für Resignation. "Das Gute daran ist, dass die Welt mehr Zeit hat, sich an den bevorstehenden Anstieg des Meeresspiegels anzupassen, wenn sie diese Situation rechtzeitig erkennt. Wenn man eine Küstenregion aufgeben oder grundlegend umgestalten muss, macht eine Vorlaufzeit von 50 Jahren einen großen Unterschied", erläutert sie. (Marlene Erhart, 23.10.2023)