Hüseyin Çiçek
Hüseyin Çiçek forscht u.a. über den Einfluss islamischer Staaten auf die muslimische Einwanderungsgesellschaft in Europa sowie über die Türkei und deren religionsbasierte Außenpolitik.
Silvia Natter

Nach dem Massaker der radikalislamischen Terrororganisation Hamas in Israel und der militärischen Reaktion der israelischen Armee kam es auch in Österreich zu mehreren Pro-Palästina-Demonstrationen – trotz aufgeladener Stimmung bislang friedlich. Allerdings nimmt die Zahl antisemitischer Aktionen massiv zu. Was tut sich da in der Gesellschaft, und wie soll der liberale Staat mit dieser aufgeheizten Situation umgehen? Ein Gesoräch mit dem Politik- und Religionswissenschafter Hüseyin Çiçek.

STANDARD: Ihre jüngste Publikation hat den Titel "Religion–Gewalt–Minderheiten. Studien zu religiöser Identität im Kontext der geopolitischen Herausforderung der Moderne". Was sind aktuell die wichtigsten geopolitischen Faktoren in diesem Zusammenhang?

Çiçek: Die Situation ist sehr komplex und durch verschiedene Einflüsse und Entwicklungen in den Bereichen Klima, Pandemie, Politik, Wirtschaft, Gewalt etc. beeinflusst. Nicht nur gegenwärtig, sondern immer wieder ist Gewalt im Kontext staatlicher und nichtstaatlicher Akteure eine Herausforderung für die Staatengemeinschaft. Ich wollte herausfinden, wie die Argumentation oder das Narrativ der jeweiligen Akteure zur Legitimierung ihrer Gewalt benutzt wird.

STANDARD: Welche Muster oder Argumente haben Sie gefunden?

Çiçek: Zum Beispiel den Rückgriff auf Ausnahmemenschen, etwa Helden oder Märtyrer, oder im Namen von Opfern aus Vergangenheit und Gegenwart. Osama bin Laden argumentierte, dass er seinen Krieg gegen die Amerikaner im Namen der Opfer der beiden Atombomben sowie der vielen Tausend toten irakischen Kinder führt. Auch gegenwärtig können wir in verschiedenen arabischen TV-Sendern beobachten, wie Hamas-Führer auf den Zweiten Weltkrieg und verschiedene Konflikte verweisen und damit die Notwendigkeit des Opferbringens gegenüber ihrer Bevölkerung legitimieren. Andere Akteure nutzen dabei eine demokratische Rhetorik, dass die Freiheit verteidigt werden muss und hierfür Opfer notwendig sind. In autoritären Systemen ist diese Art des Argumentierens besonders stark ausgeprägt. Diese Entwicklungen haben Einfluss darauf, wie Menschen ihre Identität – religiös oder säkular – definieren. Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass wir verstehen müssen, dass terroristische Gruppen voneinander lernen und einander auch imitieren.

STANDARD: Wessen "Identität" ist eigentlich gemeint? Muss man nicht sagen, dass es offenkundig vor allem der Islam ist, der sich durch die Moderne besonders "herausgefordert" fühlt?

Çiçek: Die Moderne fordert alle heraus, weil Gesellschaften ständig Normen, Werte etc. diskutieren und aushandeln müssen, die möglicherweise noch vor 50 Jahren Standard waren. So führt etwa die zunehmende Pluralisierung in demokratisch-freiheitlichen Staaten dazu, dass alte und neue Identitäten aufeinandertreffen und durch mühsame Prozesse einer Politik des Aushandelns herausfinden müssen, wie sie einander begegnen wollen. Ein anderes Beispiel wäre: Während religiöse Gruppen von binären Geschlechtern ausgehen, können nichtreligiöse Gruppen der Meinung sein, dass Geschlecht nicht ausschließlich auf das genetische Geschlecht reduziert werden darf. Oder noch ein weiteres Beispiel: Amerikanische evangelikale Gruppen behaupten oft, dass Christen, die die Bibel nicht wortwörtlich nehmen, keine Christen sind. Durch solche Entwicklungen wird die Identität zur Herausforderung vieler Gesellschaften.

STANDARD: Aktuelle Beispiele aus Österreich, wo die Israelitische Kultusgemeinde seit dem Hamas-Massaker eine "signifikante Zunahme antisemitischer Vorfälle mit Israel-Bezug" registriert: In der Nacht auf Samstag rissen in Wien drei johlende Menschen – eine 17-Jährige imitierte dabei Maschinengewehrschüsse – eine Israel-Flagge vom Stadttempel. Auch in Linz und Salzburg gab es solche Vorfälle. Einer Ihrer Forschungsschwerpunkte ist das Verhältnis von Staat und Religionsgemeinschaften. Was muss der österreichische Staat in der jetzigen Situation, die sich geopolitisch zuspitzt, tun?

Çiçek: Wir haben in Österreich eine Strafprozessordnung und müssen alle Übertritte in diesem Kontext verfolgen. Hier hat der österreichische Staat in den letzten Jahren in vergleichbaren Situationen reagiert und entsprechende rechtliche Modifikationen vorgenommen. Das Religionsrecht regelt die Rechte der Religionsgemeinschaften, und auch in diesem Rahmen gibt es genügend Möglichkeiten, auf die gegenwärtigen Herausforderungen zu reagieren. Das Verhalten der johlenden Menschen, die Sie beschreiben, wurde hoffentlich von Polizei und Sicherheitsbehörden dokumentiert und zur Anzeige gebracht. Die österreichische Strafprozessordnung ist robust und wird sicherlich im Rahmen der entsprechenden Gesetze auf die Aktion reagieren. Seit Jahren versuchen Kollegen und ich auf verschiedene Herausforderungen hinzuweisen. Wir können durch verschiedene Projekte sensibilisieren. Es wäre empfehlenswert, mehr in Forschung und Prävention zu investieren. Antisemitismus hat keinen Platz in unserer Gesellschaft.

Demonstration für Palästina am Wiener Stephansplatz.
Während das offizielle Österreich am 11. Oktober am Ballhausplatz der Opfer des Hamas-Massakers in Israel gedachte, kamen zur eigentlich verbotenen "Mahnwache für Palästina" am Stephansplatz hunderte Personen.
APA/TOBIAS STEINMAURER

STANDARD: Welche Rolle spielen Israel und die Lage der Palästinenserinnen und Palästinenser für die muslimische Community in Österreich?

Çiçek: Der Nahostkonflikt spielt und spielte immer wieder eine Rolle in Österreich oder auch Europa. Im syrischen Bürgerkrieg behaupteten viele muslimische Organisationen und Akteure, dass Israel hinter den Veränderungen in der Region stehe und eine Destabilisierung muslimischer Staaten beabsichtige oder die Terrororganisation IS eine von Israel finanzierte Gruppe sei. Ebenso spielte der Nahostkonflikt schon vor dem Massaker durch die Hamas auf verschiedenen Veranstaltungen in Österreich oder anderen Orten Europas eine Rolle. Die Entwicklungen der letzten zwei bis drei Wochen haben schon lange bestehende Konflikte und Themen, die nun in gravierendem Ausmaß – jetzt für alle wahrnehmbar – zutage treten, der breiten Öffentlichkeit vor Augen geführt.

STANDARD: Was weiß man über Antisemitismus in der muslimischen Immigrationsgesellschaft – mit Blick auf Graue Wölfe, Millî Görüş, AKP? In Österreich hat die große Mehrheit der hier lebenden türkischen Community Erdoğan und die AKP gewählt.

Çiçek: Die Grauen Wölfe sind eine rechtsradikale Gruppe, die Nazis und andere rechte Bewegungen verehrt oder zumindest Sympathien dafür hat. In diesen Gruppen wird nicht versucht, die eigenen antisemitischen Positionen zu verstecken, sondern eher durch andere rechte Gruppen zu legitimieren, etwa durch Aussagen wie "Bereits die Deutschen mussten sich des Problems der Juden annehmen". Religiöse Gruppen wie Millî Görüş übernehmen antisemitische Argumentationen von rechtsradikalen Gruppierungen und argumentieren dann religiös. Die AKP fährt im Moment eine Doppelstrategie. Erdoğans Schwiegersohn und einzelne AKP-Politiker bezeichnen Israel als Terrorstaat, der bewusst die Ausrottung der Palästinenser im Auge habe. Einzelne AKP-Stimmen sowie Stimmen aus dem linken sowie dem islamistisch-politischen Spektrum in der Türkei lassen damit aufhorchen, dass sie Hitler verehren. Die Regierung, von der AKP gestellt, möchte zusammen mit anderen arabischen und westlichen Staaten die Konfliktparteien Hamas und Israel an einen Verhandlungstisch bringen.

STANDARD: Es ist aber bekannt, dass führende Hamas-Kader in der Türkei Unterschlupf gefunden haben, also offiziell geduldet werden, und Erdoğan selbst nannte Israel früher "Terrorstaat" und Land der "Kindermörder".

Çiçek: Mit einem Wort: Die Position ist ambivalent und im Moment möglicherweise auf dem Weg zu einer neuen diplomatischen Eiszeit. (Lisa Nimmervoll, 24.10.2023)