Wenn am Wochenende die Nacht über der Heiligenstädter Straße hereinbricht, beginnt ein Schauspiel der Farben. Grünes und weißes Licht untermalt den ersten Akt. Es strahlt von der BP-Tankstelle, der Bühne des Abends. Ein Mann fährt in die Waschanlage, ein anderer tankt, ein Dritter verspeist eine Wurstsemmel und spült mit Dosenbier nach. Doch bald werden hier die übernehmen, für die die Wienerinnen und Wiener viele Namen haben: Straßenrowdies, Tuner, Roadrunner, Raser – oder einfach eine wüste Beschimpfung.

Die Tankstelle in Döbling ist Treffpunkt für die Roadrunner-Szene.
Christian Fischer

"Heute Abend wird es einiges zu sehen geben", kündigt der Tankstellenmitarbeiter an, der mit seinem Cousin die Nachtschicht schiebt. Warum gerade hier? Zum einen sei die Lage optimal, an der Auffahrt zum Gürtel. "Und die anderen Tankstellen in der Nähe verteilen Strafen, wenn die Parkplätze länger belegt sind. Wir nicht."

"90 Prozent sind leiwand"

"Servus Bruder, einmal Winston rot bitte", ordert ein junger Mann mit Kapperl im Verkaufsraum. Er stellt eine Dose Red Bull auf den Verkaufstisch. Als er bezahlt hat und wieder nach draußen geht, hinterlässt er eine süßliche Parfumwolke. "Zigaretten und Energydrinks werden hier am meisten verkauft. Alkohol weniger", erzählt der Mitarbeiter.

Während er spricht, wandert sein Blick gewohnheitsmäßig Richtung Decke. Dort hängen Monitore mit Bildern der Überwachungskameras. Es werde zwar geklaut, "aber 90 Prozent sind leiwand". Tankstelle und die Szene bilden eine perfekte Symbiose. "Das ist wahrscheinlich die reichste Tankstelle Österreichs", wird eine Frau später scherzen.

Gegen 22 Uhr geht die automatische Schiebetür zum Innenbereich ununterbrochen auf und zu. Draußen riecht es nach Benzin. Jede Zapfsäule ist belegt, ebenso die Parkplätze am Rand. Dort stehen auch Cem, Alex und Max. Die drei sind noch keine 20 Jahre alt, kommen aber fast jedes Wochenende her, seit Beginn der Corona-Pandemie. "Die Clubs waren zu, wir durften nichts machen. Das war unser Ersatz", sagt Max. Neu in der Gruppe ist Ismael: "Ich war immer zu Hause und habe trainiert. Dann habe ich vor ein paar Wochen von Freunden gehört, was an der Tankstelle abgeht."

"Gürtel-Tinder" als Club-Ersatz

Wie im Club gehe es hier auch darum, Frauen kennenzulernen, erzählt Max. "BP-Tinder" und "Gürtel-Tinder" heißt das in der Szene. Als eine junge Frau aus dem Auto an der nächstgelegenen Zapfsäule steigt, weiten sich die Augen der jungen Männer. Sie kichern. Mehr passiert nicht. Zumindest nicht hier – das erste "Hey" gibt es in der Regel auf Social Media.

In den sozialen Medien gibt es Livestreams und Highlight-Videos von den Autos.
Christian Fischer

Tiktok und Instagram spielen auch abseits von Flirts eine große Rolle in der Szene. Dort gibt es Livestreams und Highlight-Videos aus und von den Autos. Sie kommen von kleinen Privataccounts, aber auch von größeren wie "Sternzeichen Gürtel" und "Vienna Tuning Szene". Man will sehen und gesehen werden.

Die Gruppe um die jungen Männer wächst. Auf die Begrüßung mit Handschlägen folgen lose Gespräche. Kurz geht es um Drogen, dann um Autos, schließlich um den ehemaligen Kickboxer und frauenfeindlichen Influencer Andrew Tate. Dann wieder Handschläge. "Jetzt geht es auf die erste Gürtel-Runde", erklärt Alex.

Tödliche Straßenrennen

Ein schwarzer Jeep, ein silberner BMW und ein weißer Audi fahren mit heulendem Motor und quietschenden Reifen davon. Das grüne Licht der Tankstelle mischt sich mit dem Rot der Rücklichter. Diese Farbe kündigt den zweiten Akt des Abends an: die wilden Rennen über die Straßen Wiens.

Dann geht es von Ampel zu Ampel, das Gaspedal am Anschlag. Tempolimits sind nur unverbindliche Angebote, andere Autos lästige Hindernisse. Das hat Folgen: Immer wieder gibt es schwere Unfälle. Bei zwei tödlichen Fällen im September und Dezember 2022 gab es Hinweise auf illegale Straßenrennen – die Todesopfer waren jeweils unbeteiligte Personen.

Dass die Rennen so gefährlich sind, liegt auch an hochgerüsteten Fahrzeugen. Einige Umbauten sind in Österreich zwar legal, müssen aber bei der zuständigen Prüfstelle gemeldet werden. Fragt man auf dem Tankstellenparkplatz herum, will keiner etwas an seinem Auto gemacht haben. Doch viele Wagen liegen verdächtig dicht am Asphalt.

Legal, aber nicht angemeldet

Cem gibt schließlich zu, an seinem BMW schon öfter herumgewerkelt zu haben. Ein Spoiler war schon dran, ebenfalls eine Frontlippe. Die sind wieder weg, aber immer noch ist einiges umgebaut. "Alles legal", versichert er. Das stimmt theoretisch, aber: "Ich habe es nicht angemeldet. Ich habe einfach keine Kraft, zur Prüfstelle zu gehen." Ohnehin werde er das Auto bald mit Gewinn verkaufen, sagt Cem. "Dann hole ich mir lieber was, was ab Werk viel Kraft hat."

Herumgewerkelt haben die Burschen an ihren Autos schon – "alles legal", versichern sie.
Christian Fischer

Umgebaut ist auch das weiße Auto von Lisa. Sie hat sich auf optische Korrekturen beschränkt und alles gemeldet. Zusammen mit drei Freundinnen steht sie etwas abseits auf dem Gehweg vor der Tankstelle. Heute Abend sind sie als Frauen eher die Ausnahme, sie schätzt, dass aber meist knapp ein Drittel weiblich ist. Ohnehin gebe es nicht die typische Szeneperson, beim Alter reiche die Spanne beispielsweise von 18 bis ungefähr 50 Jahre.

Und nicht nur Wienerinnen und Wiener treffen sich in der Heiligenstädter Straße: "Ich kenne jemanden, der aus Linz herkommt", erzählt Lisa. An diesem Abend sind einige Kennzeichen aus dem Wiener Umland zu sehen, auch deutsche und slowakische sind dabei.

"Wer nicht grüßt, ist unten durch"

Immer wieder winken die jungen Frauen Autos zu, die vorbeifahren. "Wer nicht grüßt, ist unten durch", beschriebt Lisa das Gesetz der Szene. "Viele kenne ich nicht mit Namen, dafür mit Nummernschild." Als sie ein bestimmtes erspäht, duckt sie sich hinter ihrem Auto weg. Sie will lieber nicht gesehen werden, es geht um eine Männergeschichte.

In der Zwischenzeit sind Cem, Alex, Max und Ismael von ihrer ersten Gürtel-Runde zurückgekehrt. Auf den Autos stehen Wasserflaschen und Energydrink-Dosen, aus einem der Wagen dröhnt tschetschenische Popmusik. Nach anfänglichem Zögern wagen einige der jungen Männer ein paar Tanzbewegungen. Man beäugt sich kritisch, auch die Klamottenwahl: "Schau mal, der hat viel Geld von Mama und Papa, der trägt Moncler", sagt einer über seinen Kumpel.

Gerade von den Jüngeren haben einige auch das Auto für diesen Abend von den Eltern. Bei den Freunden ist das nicht gerade angesehen, aber immerhin können sie so teilhaben. Bei anderen, die man nicht so gerne in der Szene sehen will, fällt das Urteil härter aus: "Die Syrer bekommen doch alle das Auto von Papa", kommentiert einer abfällig.

Keine Furcht vor der Polizei

Als die Männer etwas mutiger werden mit ihren Tänzen, ruft einer dazwischen: "Polizei, Polizei, Polizei! Jungs, Musik leiser! Fahrt mal weg!" So ähnlich beginnt meist der dritte und letzte Akt des Abends, gehüllt in das Blaulicht der Streifenwagen. Der Tankstellenmitarbeiter berichtet, dass sich der Platz dann binnen Sekunden leere.

Doch an diesem Abend bleibt das Blaulicht erst einmal aus, der Streifenwagen fährt an der Tankstelle vorbei. Eine von Lisas Freundinnen fragt: "Das war doch die Andrea, oder?" Nicht nur die Szene kennt sich. "Wir werden so oft kontrolliert, da weiß man irgendwann einfach den Namen der Polizisten." Eine von Andreas Kolleginnen hat sogar regelrecht Kultstatus: "Karin aus der Polizei-Serie 'Wachzimmer Ottakring' war mal bei einer Razzia dabei, alle wollten ein Foto mit ihr machen."

Allgemein scheint der Umgang mit der Polizei recht routiniert zu sein. Fast jede und jeder hier ist schon einmal in eine Kontrolle geraten, die meisten haben auch schon Strafen bezahlt. "Ich musste mal einen Monat den Führerschein abgeben und in die Nachschulung, weil ich auf dem Ring 100 statt 50 km/h gefahren bin", erzählt Lisa. "Aber das schreckt mich nicht ab. Jedes Hobby kostet Geld, und wir geben es eben für Strafen, Getränke und Tanken aus." Ohne Polizei wäre es sogar regelrecht langweilig, erklärt die junge Frau: "Der Adrenalinkick kommt nicht wegen der Geschwindigkeit, sondern weil man vielleicht erwischt werden könnte."

Um das zu vermeiden, gibt es beim Messenger Telegram eine "Polizeiwarngruppe". Auch Lisa liest und warnt dort. Der Chat erwacht immer in den späten Abendstunden zum Leben. "Gürtel Auffahrt vom 19. bei der Brücke stehen s'" oder "Zivile stehen und warten auf jemanden zum Rausziehen", heißt es dort.

Polizei rüstet Zivile auf, Stadt baut Betonwände

Die Zivilbeamten sind für die Szene am gefährlichsten. Die Polizei hat hier ordentlich aufgerüstet: "Zur Verfolgung von Verkehrsdelikten mit weit überhöhter Geschwindigkeit und zur Bekämpfung von illegal durchgeführten Straßenrennen wurden leistungsstarke Zivilstreifenfahrzeuge angeschafft", teilt die Landespolizeidirektion auf STANDARD-Anfrage mit.

Die Polizei prüft, was an den Autos verändert wurde.

Neben der Geschwindigkeit kontrolliert die Polizei aber auch die umgebauten Autos. Bei sogenannten Schwerpunktaktionen hat sie 2023 bis September 1133 Fahrzeuge überprüft – bei 1060 wurde Gefahr in Verzug oder es wurden schwere Mängel festgestellt.

Darüber hinaus versucht die Stadt Wien mit eigenen Umbaumaßnahmen gegenzusteuern: Auf dem Parkplatz am Kahlenberg – der lange ein beliebter Szenetreffpunkt war – wurden 65 Betonwände aufgestellt, die das Driften und Rasen verunmöglichen sollen. Mit Erfolg, wie die Landespolizeidirektion betont. Dazu hat die Stadt im Frühjahr "eine großangelegte Kampagne in Kinos und sozialen Medien gestartet und dabei noch einmal für die potenziell fatalen Folgen von illegalen Straßenrennen sensibilisiert". Die Männer und Frauen an der Tankstelle können über diesen Versuch nur lachen.

Ebenso wie über die Diskussion um ein neues Tempolimit auf Österreichs Autobahnen. Die Höchstgrenze von 130 km/h gilt seit fast 50 Jahren, die FPÖ in Niederösterreich will rauf auf 150 km/h, die grüne Verkehrsministerin Leonore Gewessler will hingegen runter auf 100 km/h. "Wir werden immer schneller als das Limit fahren, das macht ja gerade den Reiz aus", sagt Lisa.

Nur einer ist strenger als die Polizei

Selbst diejenigen, die erst vor wenigen Tagen ihren Führerschein gemacht haben, nehmen an den Rennen teil. Alex steht das noch bevor, er nimmt gerade Fahrstunden. Er ist sich sicher, der Polizei von der Schippe springen zu können. "Ich werde schon aufpassen und das Gaspedal nicht ganz durchrücken." Ohnehin ist für ihn etwas anderes viel wichtiger: "Wenn ich mich nicht an die Geschwindigkeitsbegrenzung halte, bekomme ich den Führerschein nach ein paar Wochen wieder. Aber wenn mein Vater davon erfährt, nimmt er ihn mir ganz weg. Der ist strenger als die Polizei."

Nachschärfen will die Bundesregierung mit einem sogenannten Raserpaket. Die vom Ministerrat beschlossenen Gesetzesänderungen sehen vor, dass bei einer Geschwindigkeitsübertretung von 60 km/h im Ort und bei einer Übertretung von 70 km/h außerorts das Auto beschlagnahmt werden kann. Die Regel soll ab Frühjahr 2024 gelten.

Darüber machen sich Alex und die anderen Männer jetzt noch keine Gedanken. Nochmal ein Handschlag, nochmal quietschen die Reifen, und das rote Rücklicht leuchtet auf. In dieser Nacht geht das Schauspiel in die Verlängerung. (Sebastian Scheffel, 27.12.2023)