
Prothesen, die abgetrennte Gliedmaßen ersetzen, können ihren Trägerinnen und Trägern einen Teil der verlorenen Bewegungsfreiheit zurückgeben. Für die optimale Nutzung ist es allerdings nötig, dass die Prothese möglichst exakt an den Körperstumpf des individuellen Patienten oder der Patientin angepasst wird. Das ist die Aufgabe des Orthopädietechnikers beim ersten Anlegen der Prothese. Bislang bleibt er dabei jedoch auf die subjektiven Hinweise des Patienten oder der Patientin angewiesen.
Im Rahmen des Forschungsprojektes AMASE (Additively Manufactured Sensorized Prosthetic Liner Systems) soll unter der Leitung der Fachhochschule Kärnten ein System entwickelt werden, das physikalische Parameter in der Prothese erfasst und so einen objektiven Überblick über Kräfte und Druckverteilungen gibt.
"Es ist im Alltag nicht immer angenehm, eine Prothese zu tragen", sagt Projektleiter Mathias Brandstötter, Professor für Robotik und Mechatronische Systeme an der FH Kärnten. "Manche Menschen legen sie deshalb ab. Das Ziel ist es, dass eine Prothese die gewünschte Unterstützung bietet, ohne zusätzliche Probleme zu verursachen." Die Österreichische Forschungsförderungsgesellschaft (FFG) fördert das 45.0000 Euro schwere Projekt im Rahmen des Bridge-Programms.
Dehnbare Elektronik
Eine Prothese überträgt Druck sowie Scherkräfte auf den Körperstumpf. In der modernen Prothetik kommt deshalb meist ein sogenannter Silikonliner zum Einsatz. Das ist eine Art Strumpf aus Silikon, der über den Körperstumpf gezogen wird. Der Liner befindet sich somit zwischen der eigentlichen Prothese und dem körperseitigen Stumpf und soll die Belastung auf den Körper reduzieren.
Die Projektpartner von AMASE forschen an Sensorik, die in diesen Liner integriert werden und dort Druck, Kräfte, aber auch Temperatur und Feuchtigkeit messen kann. Letzteres hat den Zweck, Schweiß frühzeitig zu erkennen, der nicht nur den Tragekomfort reduziert, sondern auch die Stabilität negativ beeinflusst. Im ungünstigsten Fall kann die Prothese sogar vom Körper abrutschen.
"Der Silikonliner dient als Schutz zwischen Mensch und Prothese, er hat ständigen Hautkontakt", erklärt Brandstötter die Herausforderung. "Wenn man da Sensoren integriert, dürfen diese für den Träger nicht wahrnehmbar sein." Die Kärntner setzen deshalb auf dehn- und biegbare Elektronik auf Polymerbasis, die im Siebdruck Schicht für Schicht gedruckt wird. Dabei ist eine Schicht 35 Mikrometer dick.
Automatisierter Alarm
Das System soll einerseits beim ersten Anlegen einer Prothese Druckstellen identifizieren und den Orthopädietechniker dabei unterstützen, Anpassungen vorzunehmen. "So kann er quantifiziert nachbessern und ist nicht ausschließlich auf das Gefühl des Patienten angewiesen", sagt Brandstötter.
Ist die Prothese einmal perfekt auf den Träger oder die Trägerin eingestellt, lässt sich das System außerdem zur laufenden Kontrolle des Tragekomforts verwenden. Dabei fungieren die Ausgangswerte bei der Erstanpassung als Referenzdatensatz. Jede Abweichung von diesen Werten lässt sich registrieren. Theoretisch könnte sogar automatisiert ein Alarm an die Nutzerin oder den Nutzer ausgegeben werden, der empfiehlt, beim Hersteller eine erneute Anpassung durchzuführen – zum Beispiel durch eine geringfügige Veränderung der Prothesengeometrie oder das Anbringen einer Polsterung.
Notwendige Anpassungen
Solche Anpassungen werden nötig, weil sich motorische Muster des Menschen, etwa sein Gangbild, im Lauf der Zeit geringfügig oder auch stärker verändern. Dies ist unter anderem die Folge von Gewichtszunahme oder -abnahme, von Verschleißerscheinungen aller Art, zu- oder abnehmender Fitness beziehungsweise allgemein einer Veränderung der Lebensgewohnheiten sein – weil man zum Beispiel vom ersten in den dritten Stock umzieht und folglich mehr Stufen zu steigen hat. Fernziel ist somit ein dauerhaft in der Prothese integriertes Messsystem. In AMASE soll vorerst ein funktionstüchtiger Demonstrator entwickelt werden.
Technisch werden die Sensoren durch gitterförmige Strukturen aus einzelnen Messpunkten, sogenannte Arrays, realisiert. Je nach Messgröße kann ein Array beispielsweise aus 16 Messpunkten bestehen oder auch aus 64, wie im Fall der Druckmessung. "Wir möchten die Arrays so einfach wie möglich machen", sagt Brandstötter. "Denn jede Messstelle muss ausgewertet werden, und je mehr Messstellen, umso teurer wird die Auswertungselektronik." Zu wenige dürfen es allerdings auch nicht sein.
Denn jede Messstelle liefert nur eine punktuelle Information, etwa für den Druck. Mithilfe eines mathematischen Modells müssen diese punktuellen Informationen dann in eine gewölbte Oberfläche, die der Körperstumpf ja darstellt, hochgerechnet werden. Das erfordert allerdings eine bestimmte Menge an Messpunkten. "Oberste Prämisse ist, dass dem Patienten nicht geschadet wird. Das darf nie passieren", betont Brandstötter. Deshalb wird nur mit minimalen Strömen gearbeitet. Jeder Sensor kann Kräfte bis zu 50 Newton, also fünf Kilogramm, messen. Über die flächige Verteilung der Sensoren deckt man den vollen Bereich möglicher Belastungen ab. (Raimund Lang, 6.11.2023)