Zwei Menschen trinken Cocktails
Alkohol, Zigaretten, ungesundes Essen: Was viele als Genuss erleben, schadet der Gesundheit. Völlige Abstinenz ist häufig auch keine ideale Lösung.
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Ein oder zwei Gläser Wein zu viel, die man am nächsten Morgen merkt, oder eine gelegentliche Zigarette: Diese Genüsse können zwar mitunter unser Leben bereichern, sie kommen uns aber nicht immer zugute – was sich in körperlichen Leiden oder psychischen Beschwerden manifestieren kann. Widersprüche, die aus dem Unterdrücken von Trieben, unerfüllbarer Sehnsucht und Genusssucht entstehen, können zu Depressionen oder Neurosen führen. Nach dem Begründer der Psychoanalyse Sigmund Freud ist dieses Streben nach Genuss und Lustgewinn die Triebfeder menschlichen Handelns.

Dass Triebbedürfnisse nach den Maßgaben von Kultur und Gesellschaft modifiziert und eingeschränkt werden müssen, beschrieb Freud in "Das Unbehagen in der Kultur" und prägte darin den Begriff vom Triebverzicht. Der Mensch sei demnach nicht frei in seinen Entscheidungen, sondern von Trieben gesteuert, deren Unterdrückung zu psychischen Krankheiten führen kann.

Ohne die Triebumleitungen würden wir jedoch zurückfallen in eine barbarische Gesellschaft, "das wäre ein Streben in eine Un-Kultur", erklärt der Psychiater August Ruhs vom Wiener Arbeitskreis für Psychoanalyse. Der Verzicht, Trieben ungehemmt nachzugehen, fordere, dass wir unsere Bedürfnisse in ein Begehren umwandeln müssen. Diese Sehnsüchte seien letztlich nicht wirklich erfüllbar, jedoch könnten wir das, was davon übrig bleibt, im Genießen erleben, erklärt Ruhs.

Verirrt im Wertechaos

Genuss finde auf mehreren Triebebenen statt und fordere oft ein Mehrgenießen. "Was Karl Marx auf der materiellen Ebene als den Mehrwert bestimmt hat, kann sich auch auf eine Mehrlust beziehen", sagt Ruhs, "vom Schautrieb bis hin zum Esstrieb, Oraltrieb und anderen Triebarten." Das erzeuge Frustrationen. Die pure Triebbefriedigung würde dagegen auf einer niedrigeren Ebene stattfinden als eine kultivierte und zivilisierte Lust.

Gerade das kapitalistische System fördere den Genuss, mache gar einen Befehl daraus, meint Ruhs. Gleichzeitig mahnt er vor einem Wegfall verbindlicher Gesetze und einem Streben nach der Überwindung unüberwindbarer Widersprüche: "Man darf nicht mehr rauchen oder andere Genüsse haben, soll aber gleichzeitig mehr genießen." Daran würden Individuen teils zerbrechen und nicht mehr wissen, was sie wirklich sind oder sollen, das kann zu Depressionen und Angsterkrankungen führen. "Auch die Konformität der postindustriellen Gesellschaft führt zu einer Angstgesellschaft", erklärt Ruhs. Die Angst vor Nonkonformismus und dem richtigen Verhalten sei stärker als Schuldgefühle wegen des Verstoßens gegen gesellschaftliche Normen. "Wir sind in einer Gesellschaft des Wertechaos", sagt er.

Raucherin mit Zigarette
Der Verzicht auf Zigaretten ist für viele Raucherinnen und Raucher eine große Herausforderung. Wie das Rauchen in der Gesellschaft wahrgenommen wird, verändert sich.
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Solange wir aber wissen, in Maßen genießen zu können, besteht erst einmal kein Grund zur Sorge. Dennoch sind die Grenzen des gesunden Genießens nicht objektiv beurteilbar, "weil das, was man genießen soll und darf, kultur- und epochenabhängig ist", erklärt Ruhs. Auch durch das Strafgesetz und eigene Wertehaltungen kann ein subjektives Genusserleben eingeschränkt werden.

In einem gewissen Antagonismus zum Genießen steht die Lust, sagt Ruhs, sie sei immer auch mit einem unerfüllbaren Begehren verbunden. Der Mensch möchte glücklich sein, er strebt nach Lustgewinn, doch darauf sei die Welt nicht ausgerichtet. Die Akzeptanz, dieses Unerfüllbare zu erreichen und dennoch genießen zu können, muss kein Spagat sein. "Man kann es auch mit der Sublimierung erfassen, eine hohe Triebstärke an Aggression kann einen Mörder erzeugen, aber auch einen großartigen Chirurgen, wie das Freud einmal gesagt hat", erklärt Ruhs. So könne auch ein Voyeur zu einem künstlerisch hochwertigen Fotografen werden.

Innere Konflikte lösen

Die Psychoanalyse kann einen positiven Einfluss haben, meint Ruhs, "das Über-Ich zu stärken, die Selbstdisziplin zu stärken, um Weisen, die mir oder anderen schaden, zu zügeln". Viele Vorschläge aus der Psychotherapie seien aber, gleich dem kapitalistischen Gesellschaftssystem, gewinnorientiert, kritisiert er. Die Psychoanalyse würde dagegen mehr an einem Appell zum Verzicht festhalten, Mängel zu akzeptieren und damit ein größeres Maß an Zufriedenheit zu finden. Vor allem der Leidensdruck bestimmt dabei als subjektiver Faktor den Verlauf einer Therapie.

Wer in sich einen Konflikt trägt, der Symptome erzeugt, sollte Veränderungsarbeit, am besten im Rahmen einer Therapie, leisten. "Man kann von einem größeren Scheitern zu einem kleineren übergehen, bis man schließlich auf die Symptome verzichten kann", erklärt Ruhs. Aber in jedem neurotischen oder psychogenen Symptom stecke auch ein Krankheitsgewinn, den man nicht gerne hergibt.

Burger
Dass Fast Food der Gesundheit nicht unbedingt zuträglich ist, wissen wir. Beißen wir dennoch in einen Burger, folgt das schlechte Gewissen oft auf dem Fuße.
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"Wenn ich etwas verdränge, dann verdränge ich mit der unliebsamen Vorstellung auch eine Lustenergie, und diese wirkt meistens unbewusst weiter", sagt Ruhs. Der unbewusste Krankheitswert kann also auch das Genießen im Symptom sein. Die Grenzen des eigenen Wohlbefindens können auch übergangen werden, wenn Patienten oder Patientinnen Selbstverletzungstendenzen in sich tragen. "Sie genießen die Selbstschädigung, sind aber gleichzeitig darüber höchst unglücklich", erklärt Ruhs. Diesen Widerspruch aufzuheben erfordere enorme Arbeit, da er mit Genussverzicht verbunden ist.

Aber solange Verhaltensweisen und Genussgüter uns und anderen nicht schaden, können sie eine lustvolle Bereicherung sein. Vor immer wieder durchbrechenden Unarten und Untugenden ist auch Ruhs nicht verschont, "auch ich habe meine Restneurose nach erfolgreicher Psychoanalyse immer noch". Dabei handle es sich um gewisse die Genussfähigkeit betreffende Neigungen, "ich kann Dinge genießen, von denen ich weiß, dass sie mir nicht guttun". (Lea Weinberg, 4.11.2023)