Der evolutionäre Erfolg der Menschheit ist ohne Kulinarik nicht erklärbar. Keine andere Spezies betreibt so einen Aufwand für ein gutes Mahl wie wir. Das Verarbeiten von Lebensmitteln ist ein großer Teil dessen, was uns von anderen Arten unterscheidet.

Auch unsere Intelligenz hat davon profitiert: Durch das Kochen werden Inhaltsstoffe besser verwertbar, was die Gehirnentwicklung begünstigt. Dafür ist unser Verdauungstrakt vergleichsweise unterentwickelt – da haben Ziegen oder Würmer weit mehr zu bieten. Daran sind wir selbst schuld. Im Laufe der Evolution haben wir einen Teil unseres Verdauungssystems in die Küche ausgelagert: Wir erfinden immer neue Werkzeuge und Methoden fürs Schneiden, Hacken, Mörsern, Mahlen, Dünsten, Rösten, Fermentieren, Räuchern, Braten und Frittieren.

glasierte Donuts
Auch unter den gesüßten Fertigbackwaren finden sich viele hochverarbeitete Lebensmittel.
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Der nächste logische Schritt war, die Lebensmittelverarbeitung zu industrialisieren. Nicht das Individuum muss tagtäglich einen erheblichen Zeitaufwand für die Zubereitung von Essen vergeuden. Stattdessen kocht die Fabrik. Klingt sinnvoll und praktisch, es gibt nur einen Haken: Die Hinweise verdichten sich, dass diese hochverarbeiteten Lebensmittel Gesundheitsrisiken mit sich bringen und letztlich schuld an den meisten frühzeitigen Todesfällen in Industrienationen sind.

Wurzel des Übels

Obwohl uns die Verarbeitung von Lebensmitteln also evolutionäre Vorteile beschert hat, soll sie nun die Wurzel vieler Übel sein. Nicht jeder will diese Behauptung schlucken. Während hochverarbeitete Lebensmittel in der Öffentlichkeit noch kaum Thema sind, tobt in der Wissenschaft ein Streit darüber, wie schädlich sie tatsächlich sind und wie mit ihnen umzugehen ist.

Im Zentrum der Kontroverse steht das kürzlich erschienene Buch "Ultra-Processed People: The Science Behind Food That Isn't Food" (auf Deutsch: "Gefährlich lecker") des britischen Mediziners Chris Van Tulleken.

Chris Van Tulleken
Der britische Mediziner Chris Van Tulleken hat kürzlich ein Buch zu hochverarbeiteten Lebensmitteln vorgelegt.
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Seine Kritik an hochverarbeitetem Essen ist rasch umrissen. "Wir nehmen alle an einem Experiment teil, für das wir uns nicht freiwillig gemeldet haben", sagte Van Tulleken. "Uns allen werden ständig brandneue Moleküle verabreicht, die noch nie in unserer Ernährung vorkamen. Und unser eigenes System, Nahrung aufzunehmen, kommt mit diesen Lebensmitteln nicht gut zurecht."

Insofern will Van Tulleken bei hochverarbeiteten Lebensmitteln gar nicht von Essen sprechen, er verwendet dafür lieber die Bezeichnung "stuff", also Zeug.

Junk food auf einem Tisch
Hochverarbeitete Lebensmittel stehen im Verdacht, sich schädlich auf den menschlichen Körper auszuwirken.
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Ursachen von Adipositas

Doch was ist hochverarbeitetes Essen eigentlich? Die wissenschaftliche Analyse von hochverarbeiteten Lebensmitteln ist untrennbar mit Adipositas verbunden. Weltweit leiden immer mehr Menschen an Übergewicht, wobei die Häufigkeit regional sehr verschieden ist. Adipositas ist einerseits eine Wohlstandskrankheit – betroffen sind vor allem Menschen, die in reicheren Ländern leben. Andererseits ist Adipositas auch eine Armutserscheinung, sind doch überdurchschnittlich unterprivilegierte Schichten mit niedrigerem Einkommen betroffen.

In den USA und Europa ist Übergewicht längst zu einem dominanten Gesundheitsrisiko geworden. Laut dem Adipostas-Sachstandsbericht der Weltgesundheitsorganisation WHO aus dem Vorjahr leiden in Europa inzwischen 60 Prozent der Erwachsenen an Übergewicht und knapp 30 Prozent der Kinder. "Übergewicht und Adipositas zählen in der europäischen Region zu den führenden Ursachen für Tod und Behinderung", wie es in dem Bericht heißt. 1,2 Millionen Todesfälle seien dadurch bedingt, was einem Anteil von über 13 Prozent der Gesamtsterblichkeit in Europa entspricht.

Tiefkühlpizza
Convenient Food wie Tiefkühlpizza zählt ebenfalls häufig zur Kategorie der hochverarbeiteten Lebensmittel.
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Paradoxe Situation

Die Korrelationen sind eindeutig: Adipositas erhöht das Risiko für zahlreiche Erkrankungen, darunter mindestens 13 unterschiedliche Krebsarten, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Typ-2-Diabetes und chronische Atemwegserkrankungen, wie die WHO feststellt.

Trotz umfangreicher Forschung, Unmengen von Diätprodukten und Medikamenten wird das Problem aber nicht besser, sondern immer schlimmer. Eine paradoxe Situation, die fast nur damit erklärbar ist, dass wir Adipositas noch nicht richtig verstanden haben.

Instant-Suppe
Instantgerichte sind praktisch, doch unser Verdauungssystem könnte durch die teils künstlich hergestellten Inhaltsstoffe durcheinandergebracht werden.
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Wo immer auf der Welt Adipositas zum Problem wird, vollzieht sich die Kehrtwende von Unterernährung zu Übergewicht innerhalb weniger Jahre oder Jahrzehnte. Pionierarbeit bei der Erforschung hat der brasilianische Ernährungswissenschafter Carlos Augusto Monteiro geleistet.

Aus einem ärmeren Umfeld stammend, war Monteiro der erste in seiner Familie, der an einer Universität studierte. Nach der Promotion an der Universität São Paulo war er als Post-Doc an der Columbia-Universität in New York tätig und später für die WHO in Genf. 1992 kehrte er als Institutsleiter nach São Paulo zurück – gerade rechtzeitig, um mitzuverfolgen, wie in Brasilien innerhalb weniger Jahre die Hauptsorge Unterernährung von Adipositas verdrängt wurde. Mit seinem Team sammelte er Unmengen an Daten zum Essverhalten der brasilianischen Bevölkerung, um die Zunahme von Adipositas in Echtzeit zu erforschen.

Carlos Augusto Monteiro
Carlos Augusto Monteiro ist ein renommierter Ernährungsforscher an der Universität São Paulo.
NUPENS USP

Gewagte These

Es wäre naiv, nur einen alleinigen Verursacher dingfest machen zu wollen – Lebensstil, Bewegungsmangel, Essgewohnheiten, genetische Veranlagung, all das spielt eine Rolle bei Übergewicht. Doch keiner dieser Faktoren kann den sprunghaften Anstieg in nur wenigen Jahren erklären.

Selbst bei den Nährstoffen konnten die Forschenden keine signifikanten Unterschiede finden: Das Verhältnis von Fetten, Kohlenhydraten, Proteinen und Balaststoffen im Essen änderte sich kaum. Das Team um Monteiro konnte aber eine andere Entwicklung ausmachen. Zeitgleich mit dem Anstieg von Adipositas trat in brasilianischen Supermärkten eine neue Kategorie von Essen ihren Siegeszug an: hochverarbeitete Lebensmittel.

Basierend auf der Analyse ihrer Daten präsentierten Monteiro und Kollegen im Jahr 2009 im Fachblatt "Public Health Nutrition" ihre gewagte These: Nicht die Nährstoffe sind entscheidend für die gesundheitlichen Auswirkungen von Essen, sondern die Verarbeitung. Das Team schlug ein neues Klassifikationssystem für Lebensmittel gemäß ihrer Verarbeitung vor: die Nova-Klassifikation.

Softdrinks im Supermarktregal
Auch viele Softdrinks fallen in die Kategorie hochverarbeiteter Lebensmittel.
IMAGO/Levine-Roberts

Wissenschaftliches Erdbeben

Der Vorschlag kam einem Erdbeben in den Ernährungswissenschaften gleich, die sich seit jeher mit Nährstoffen beschäftigt hatten. Auch wenn Monteiro inzwischen viele Fürsprecher hat, sind in der Fachwelt längst nicht alle überzeugt. Teils sehen sie in manchen hochverarbeiteten Lebensmitteln Verbesserungen, die sich sogar positiv auswirken könnten.

Das Nova-System hat vier Stufen, wobei die unterste Stufe unverarbeitete Lebensmittel wie frisches Obst oder Gemüse darstellen. Die vierte Stufe sind die hochverarbeiteten Lebensmittel, auf Englisch ultra-processed foods (UPF). Die Nova-Definition für hochverarbeitete Lebensmittel ist lang und komplex, sie beinhaltet unter anderem, dass das Lebensmittel mindestens fünf verschiedene Zutaten enthalten muss, aber auch, dass die Intention der Fertigung der Profitmaximierung von Lebensmittelkonzernen dienen soll. Im Grunde zeichnen sich UPFs dadurch aus, dass für ihre Herstellung natürliche Lebensmittel in Bestandteile wie Zucker, Fette oder Ballaststoffe aufgespalten, chemisch bearbeitet und dann industriell zu einem neuen Produkt verarbeitet werden, oft unter Beimischung von Zusatzstoffen. "Das sieht aus wie ein Rezept für chronische Erkrankungen", sagt Monteiro.

Eine gute Faustregel, um ein UPF zu identifizieren, sei: "Wenn es in Plastik verpackt ist und mindestens eine Zutat beinhaltet, die in keiner herkömmlichen Küche zu finden ist, dann handelt es sich sehr wahrscheinlich um ein hochverarbeitetes Lebensmittel." Viele Nahrungsmittel, die als Junkfood bezeichnet werden, sind hochverarbeitet, wie etwa Softdrinks oder Burger.

Vegane Bratwürste
Auch vegane Bratwürste gelten in der Regel als UPFs – aber sind sie tatsächlich so ungesund?
IMAGO/Bihlmayerfotografie

Überraschende Bestätigung

Convenience Food wie Fertiglasagne oder Instantnudeln fällt meist in diese Kategorie. Aber auch Lebensmittel, die als besonders gesund angepriesen werden, wie probiotisches Joghurt oder fettreduzierter Käse, sind UPFs.

In den USA und Großbritannien machen hochverarbeitete Lebensmittel bereits den Großteil der Ernährung aus. Einer von fünf US-Amerikanern ernährt sich zu 80 Prozent von UPFs. In der EU werden hochverarbeitete Lebensmittel noch weniger gegessen, aber auch hier werden sie immer beliebter.

Der Ernährungsforscher Kevin Hall war äußerst skeptisch, als er zum ersten Mal von Monteiros Klassifizierung hörte. Er führte eine Studie durch und war wohl selbst am meisten überrascht, dass er Monteiro nicht widerlegte – sondern bestätigte. 2019 wies Hall in einer kontrolliert-randomisierten Studie tatsächlich einen Zusammenhang zwischen UPFs und Adipositas nach.

Der kanadische Ernährungsforscher Kevin Hall war zunächst äußerst skeptisch, was das Nova-System angeht, wie er in diesem Video erzählt.
Open to Debate

Das Ziel der UPF-Industrie ist laut Monteiro, die Gewinne zu maximieren, indem sie die Konsumentinnen und Konsumenten dazu bringt, auf frisch zubereitete Lebensmittel zu verzichten. "UPFs sind erschwinglich, weil die Zutaten billig sind, sie sind bequem, sie sind so konzipiert, dass sie den Verbrauchern schmecken, und sie werden aggressiv vermarktet", sagte Monteiro kürzlich zum Magazin "New Scientist".

Des Rätsels Lösung?

Seit Halls Publikation sind dutzende weitere Arbeiten erschienen, und eine nach der anderen stellt eine Korrelation von hochverarbeiteten Lebensmitteln und Adipositas fest. Könnten UPFs also der Schlüssel in unserem lückenhaften Verständnis von Adipositas sein?

Für manche Fachleute wie Van Tulleken ist mit den UPFs des Rätsels Lösung gefunden. Angelehnt an Antirauchkampagnen sei es nun notwendig, dass sich die Menschen von UPFs entwöhnen – und viele unserer Gesundheitsprobleme wären gelöst.

Mikrowellengericht
Zu praktisch, um gesund zu sein? Mikrowellengerichte sind rasch zubereitet, aber möglicherweise trotzdem nicht uneingeschränkt empfehlenswert.
imago images/Shotshop

Nicht alle sind überzeugt. Ian Young von der Universität Belfast weist auf die "begrenzte Datenlage" hin und darauf, dass nach wie vor offen sei, "ob es einen unabhängigen Effekt der Verarbeitung gibt". Andere befürchten, mit der Verteufelung der UPFs das Kind mit dem Bade auszuschütten, weil damit auch Fruchtjoghurts oder veganer Käse unter Generalverdacht geraten.

Bevor geklärt werden kann, welche Gefahr tatsächlich von hochverarbeiteten Lebensmitteln ausgeht, werden wohl noch viele Studien notwendig sein – und die eine oder andere Tiefkühlpizza wird sich als willkommene Rettung nach einem langen Arbeitstag erweisen. (Tanja Traxler, 5.11.2023)

Bei einem Vortrag in London führte der britische Mediziner Chris Van Tulleken kürzlich aus, warum er hochverarbeiteten Lebensmitteln mit Skepsis begegnet.
The Royal Institution