Bevor es eine normierte Schrift- und Standardsprache gab, lebten unsere Vorfahren gut mit dem, was wir heute als "Dialekte" bezeichnen: gesprochenen Sprachformen, die nur kleinräumig verbreitet sind, meist sogar nur für eine einzelne Ortschaft gelten. Sie verfügen über Merkmale in der Aussprache, der Grammatik und im Wortschatz, die maximal vom Standarddeutschen entfernt sind. Wie schon ihre Ahnen können dialektfeste Österreicher:innen – und das ist auch heute noch die Mehrheit – heraushören, woher ein:e Sprecher:in stammt.

Für Sprachwissenschafter:innen sind die Dialekte eine wertvolle Ressource – nicht nur für die Erforschung der heutigen Dialekte: Denn die Verbreitung der heutigen Mundarten verrät auch etwas über ihre historische Schichtung. So spiegelt die Karte der Dialekte des Deutschen etwa, inwiefern und wie weit sich die sogenannte Zweite Lautverschiebung (6. bis 8. Jahrhundert nach Christus) durchgesetzt hat. Dieser systematische Lautwandel verlief je nach Region, aber auch nach Lautumgebung unterschiedlich, sodass wir ein wortinitiales /*p/ nun als /pf/, jedoch in Wortmitte oder -ende als /f/ wiederfinden – man vergleiche pfeffer im Oberdeutschen, peffer in Teilen des Mitteldeutschen, pep(p)er im Niederdeutschen, Niederländischen und Englischen. Im Zuge dieser Wandelerscheinungen spalteten sich also die hochdeutschen (Ober- und Mitteldeutsch zusammengefasst) von den niederdeutschen Dialekten sowie allen anderen germanischen Sprachen ab.

Karte der Dialekte im deutschen Sprachgebiet
Deutsche Dialekte (nach Peter Wiesinger und Werner König). Lila = Niederfränkisch | Rotorange = Friesisch | Blau = Niederdeutsch | Gelb = Mitteldeutsch | Hellorange = Oberdeutsch
CC BY-SA 4.0 Vlaemink

Dialekte ändern sich viel schneller als die relativ statische Schriftsprache, auf der Ebene des Wortschatzes zudem rascher als in der Lautung oder der Grammatik. Nicht nur Eigenschaften der Sprecher:innen (wie Alter, Gender, Ausbildungsgrad), sondern auch Kontaktsituationen (mit Sprecher:innen anderer Dialekte und Sprachen), der Formalitätsgrad der Sprechsituation, persönliche Einstellungen (etwa Dialekt als Identitätsmerkmal) sowie auch unsere Interpretationen von Gehörtem sind Faktoren, die die Variation der Sprecher:innen und damit letztendlich auch den Sprachwandel beeinflussen.

Kurzum: Die Dialektologie untersucht, warum die Dialekte so sind, wie wir sie heute wahrnehmen, wie es dazu gekommen ist und wie und warum sie sich heute ändern.

Dialekte per Fragebögen und Fragebücher erforschen

Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts fand wohl eines der weitreichendsten Projekte zu Dialekten im deutschsprachigen Raum statt. Über eine Fragebogenerhebung wurden Volksschullehrer:innen aufgefordert, 40 schriftdeutsche Sätze in den örtlichen Dialekt zu übersetzen bzw. sich von den Schulkindern übersetzen zu lassen. Das Projekt unter der Leitung von Georg Wenker erhielt ausgefüllte Papierbögen aus mehr als 48.500 Orten zurück. Daraus entstanden für den "Deutschen Sprachatlas" 1.646 handgezeichnete Karten. Sie zeigen Lautgrenzen mittels sogenannter Isoglossen auf. So wird die Grenze zwischen den nieder- und den hochdeutschen Dialekten, die "Benrather Linie", durch den Gegensatz von südlichem machen und nördlichem maken markiert. Entlang der "Speyerer Linie", an der sich die Aussprache apfel im Süden und appel im Norden gegenüberstehen, verläuft die Grenze zwischen den mittel- und den oberdeutschen Dialekten. Anhand relativ weniger dieser Lautgrenzen, die das Vordringen der Zweiten Lautverschiebung markieren, teilt man seitdem also den Gesamtraum der deutschen Mundarten in größere Dialekträume ein.

Für den "Atlas linguistique de la France" gingen der Linguist Jules Gilliéron und sein Mitarbeiter Edmond Edmont anders vor. Edmont tourte von 1896 bis 1900 mit dem Rad durch den französischsprachigen Raum und führte an 639 Orten Interviews anhand eines Fragebuchs mit über 1.500 Einzelfragen durch. Das Gehörte verschriftete er "ohrenphonetisch", das heißt, er notierte es in phonetischer Umschrift.

Moderne Dialektologie

Die beiden Projekte gelten als Klassiker der Dialekterhebungen. Im Prinzip verfahren heutige Untersuchungen ähnlich. So verwendet das aktuelle Projekt "Heast, sog amoi!" zu Dialekten in und um Österreich – wie dies Wenker tat – ebenfalls Standard-zu-Dialekt-Übersetzungen. Allerdings kommen heute Online-Fragebögen zum Einsatz, was viel Zeit und Geld spart und auch teilautomatisierte Auswertungen erlaubt.

Antworten auf eine Bildbenennungsaufgabe
Kategorische Einteilung der Crowdsourcing-Antworten
Heast, sog amoi!

Im ebenfalls laufenden Projekt "Variation und Wandel dialektaler Varietäten in Österreich" wandeln die Forscher:innen auf Edmonts Spuren. Sie sind 125 ländlich geprägte Orte in Österreich abgefahren, und insgesamt über 300 Dialektsprecher:innen – alte wie junge – wurden befragt. Deren Antworten werden nicht vor Ort verschriftet, sondern mit Speech-Recordern aufgenommen. Dies ermöglicht den Forscher:innen spätere Transkriptionen wie auch akustisch-phonetische Tiefenbohrungen. Darüber hinaus können Tonausschnitte in "sprechenden Dialektatlanten" präsentiert werden, wie es sie etwa schon für Salzburg und Oberösterreich gibt.

Dialektlaute können aber nicht mehr nur "hörbar", sondern etwa mithilfe von Spektogrammen auch "sichtbar" gemacht werden. Mit neuen bildgebenden Verfahren wie Ultraschall lassen sich etwa die Zungenpositionen bei den Aussprachevarianten von "l" messen. Weiters werden in modernen Dialekterhebungen Bewertungsaufgaben oder Hörerurteile genutzt, um dem kognitiven Prozessen beim Sprachwandel auf die Spur zu kommen. So stellt sich etwa die Frage, ob Aussprachevarianten wie die "Wiener Monophthongierung" (zum Beispiel waaß für "weiß", hɒɒs für "Haus") von Sprecher:innen tatsächlich wahrgenommen werden und welche Merkmale mit welchen Sprecher:innengruppen assoziiert werden – das lässt sich beispielsweise in Perzeptionsanalysen feststellen.

Neu sind in der Dialektologie "Citizen Science"-Projekte. Sie eröffnen nun auch Laien, wissenschaftsgeleitet an ausgewählten Themen mitzuforschen. Die Erkenntnisse für die Mitmachenden sind mitunter unmittelbar erfahrbar – etwa im Falle von "OeDA", der Österreichischen Dialekt-App: Hier kann man Dialektausdrücke selbst eintippen oder einsprechen – um sie dann auf einer Österreich-Karte anzusehen und mit den Ausdrücken anderer Teilnehmer:innen zu vergleichen. Und was diese Methoden alle konkret bedeuten, zu alledem erfahren Sie bald hier mehr – im ÖTon. (Hartinger Marlene, 7.12.2023)