
Wien – Normalerweise kann die künstlerische Gestaltung der rund 180 Quadratmeter großen Brandschutzwand vor der Bühne der Wiener Staatsoper durch die schiere Dimension eine Herausforderung darstellen. Für den dieses Jahr eingeladenen Künstler hingegen muss es ein Kinderspiel gewesen sein, das Originalgemälde für die neue Verhüllung zu schaffen, die in der kommenden Saison zu sehen sein wird. Immerhin ist das Monumentale, die üblichen Maße Sprengende das Fachgebiet von Anselm Kiefer. Der deutsche Maler ist bekannt für seine überdimensionalen Skulpturen, Installationen und Gemälde aus Materialien wie Asche, Sonnenblumen, Blei, Erde, Stoff oder Stroh, die er oft partiell durch Feuer zerstört.
Dass genau er nun den Eisernen Vorhang gestaltete, der ja als Schutz vor genau diesem Element dient, kann als netter Widerspruch verstanden werden – und natürlich als großer Gewinn für Wien. Immerhin zählt der 78-Jährige zu den bekanntesten Künstlern der Gegenwart, der sich in seinem umfassenden Werk wie kein anderer mit der deutschen Geschichte, aber auch dem Mythos sowie der Poesie beschäftigt. Mit seiner Verhüllung des Eisernen Vorhangs entführt Kiefer nun in einen fremden Kosmos, in dem es mehrere Sonnen sowie einen gigantischen Ozean gibt. Dieser rollt scheinbar auf das im Parkett sitzende Publikum zu, wie es Staatsoperndirektor Bogdan Roščić bei der Eröffnung am Mittwoch formulierte.

Science-Fiction mit zwei Sonnen
Seit 1998 wird jedes Jahr eine zeitgenössische Arbeit für die Gestaltung des Eisernen Vorhangs ausgewählt, um das Werk des wegen seines Engagements während der NS-Zeit umstrittenen Rudolf Eisenmenger zu überdecken. In der Vergangenheit wurden bereits Maria Lassnig, Jeff Koons, John Baldessari, Martha Jungwirth oder 2022 Cao Fei dazu eingeladen. Das in Kooperation mit Museum in Progress realisierte Werk wird in einem ersten Schritt von einer Jury auserkoren; diese besteht aus Daniel Birnbaum, Bice Curiger und Hans-Ulrich Obrist. Dass deren Wahl diese Saison auf Kiefer fiel, passt auch aus einem anderen Grund: Für den in Frankreich lebenden Künstler, der seit 2018 auch die österreichische Staatsbürgerschaft besitzt, spielte die Oper lange schon eine bedeutende Rolle, und er inszenierte sogar bereits selbst.
Mit dem Titel Solaris nimmt der Künstler auf den gleichnamigen Roman des polnischen Science-Fiction-Autors Stanislaw Lem Bezug, der von einem tausende Lichtjahre entfernten Exoplaneten handelt. Der einzige Bewohner dieser Welt ist ein gigantischer Ozean, der den Großteil dieses Himmelskörpers bedeckt und – wie besuchende Astronauten feststellen müssen – eine quasi übermächtige Geisteskraft besitzt. Bei dem intensiven Werk in kräftigen Erdtönen kann man von einem typischen Kiefer sprechen, für den Literatur eine wichtige Basis für sein künstlerisches Schaffen bildet. Der erst kürzlich in den Kinos angelaufene Film Anselm – Das Rauschen der Zeit des Regisseurs Wim Wenders macht ebendiese rätselhafte und mythenumwobene Welt des Künstlers greifbar. Alles in XXL selbstverständlich. (Katharina Rustler, 8.11.2023)