Mittelmeer-Mönchsrobbe, Artensterben in Europa, IUCN
Es sind nicht nur die ikonischen Arten wie hier die Mittelmeer-Mönchsrobbe (Monachus monachus), die in Europa vom Aussterben bedroht sind. Die meisten Spezies, die womöglich bald verschwinden werden, führen ein unscheinbares Leben im Verborgenen. Dazu zählen insbesondere viele Insektenarten.
Foto: APA/AFP/JACK GUEZ

Mehr als ein Fünftel der Pflanzen und fast ein Fünftel der Tiere in Europa, die auf der Roten Liste gefährdeter Arten der Weltnaturschutzunion (IUCN) genannt werden, sind vom Aussterben bedroht, berichtet ein Forscherteam mit österreichischer Beteiligung. Zu diesem Ergebnis kommt eine aktuelle Bestandsaufnahme, die von einem Team um Axel Hochkirch vom Nationalmuseum für Naturgeschichte Luxemburg im Fachjournal "Plos One" veröffentlicht wurde.

Weltweit seien zwei Millionen Pflanzen und Tiere durch Einflüsse des Menschen in Gefahr. Die Forschenden analysierten die Situation aller 14.669 Pflanzen und Tiere in Europa, die sich Ende 2020 auf der Roten Liste der IUCN befanden. Dies sind etwa zehn Prozent aller Arten des Kontinents. Dazu gehören Vögel, Fische, Säugetiere und Reptilien (Wirbeltiere), Insekten und Spinnen (wirbellose Tiere) und Pflanzen wie Bäume, Farne, Moose und Wasserpflanzen.

Gleichmäßig verteiltes Sterben

Das Team, zu dem auch Thomas Zuna-Kratky vom Ingenieurbüro für Landschaftsplanung und Landschaftspflege in Wien gehört, kam zu dem Schluss, dass 27 Prozent der Pflanzenarten, 24 Prozent der wirbellosen Tiere und 18 Prozent der Wirbeltiere in den kommenden Jahrzehnten vom Verschwinden bedroht sind. Insgesamt sind das 2.839 Arten. 125 Tier- und Pflanzenarten gelten bereits jetzt als ausgestorben, regional ausgestorben oder potenziell ausgestorben. "Eine der wichtigsten Erkenntnisse ist, dass sich die Anzahl gefährdeter Arten über die verschiedenen Artengruppen nicht maßgeblich unterscheidet", so Hochkirch.

Eine globale Inventur des Weltbiodiversitätsrates (IPBES) aus dem Jahr 2019 erkannte eine Million Arten der geschätzt acht Millionen Arten weltweit als bedroht. Laut der aktuellen Analyse mit den europäischen Arten wären es weltweit fast doppelt so viele, also zwei Millionen, so die Wissenschafterinnen und Wissenschafter. Die Verdopplung innerhalb weniger Jahre lasse sich mit neuen und genaueren Informationen begründen, erklärt Josef Settele, Mitautor des letzten IPBES-Berichts, zur neuen Studie.

Artensterben in Europa, IUCN
Die Karte zeigt die räumliche Verteilung des Artenreichtums an Land und im Süßwasser in Europa auf der Grundlage einer Analyse aller europäischen Bewertungen der Roten Liste der IUCN.
Grafik: Axel Hochkirch et al./Plos One

Dramatischer als gedacht

"Bisher werden durch die IUCN weltweit etwa 150.000 Pflanzen und Tierarten hinsichtlich ihres Gefährdungsstatus erfasst. Für etwa ein Zehntel – die Arten Europas – zeigt die neue Studie nun erheblich schärfer und umfassender als zuvor, dass deutlich mehr Arten vom Aussterben bedroht sind", erklärt Matthias Glaubrecht vom Leibniz-Institut zur Analyse des Biodiversitätswandels in Hamburg. Europa sei eine jener Regionen der Erde, für die noch die besten Daten vorliegen, meinte Glaubrecht, der nicht an der Studie beteiligt war. "Wenn sich hier die Situation schon derart dramatisch darstellt, bedeutet dies, dass sich die Biodiversitätskrise in anderen, weitaus artenreicheren Regionen sehr wahrscheinlich noch deutlich brisanter darstellt", so Glaubrecht.

Als Gründe für die wachsende Bedrohung nannten die Forschenden etwa den Verlust des Lebensraums, intensive Landwirtschaft und Umweltverschmutzung. "Zwar wurde die Feststellung, dass landwirtschaftliche Landnutzungsänderungen eine große Bedrohung darstellen, schon oft gemacht, aber unsere Analyse ist die bisher umfassendste und eindeutigste, die das Ausmaß dieser Bedrohung im kontinentalen Maßstab bestätigt", so die Autorinnen und Autoren der Untersuchung. Auch die Übernutzung biologischer Ressourcen sowie durch den Klimawandel verursachte Extremwetterlagen gefährden die Artenvielfalt demnach massiv.

Schwalbenschwanz, Artensterben in Europa, IUCN
Ein Schwalbenschwanz (Papilio machaon) ruht sich ein wenig aus. Früher war der prachtvolle Tagfalter in Österreich häufiger anzutreffen. Mittlerweile bekommt man ihn nur mehr selten zu Gesicht.
Foto: Rene Lunzer

Auch Österreich betroffen

"Für Österreich macht die aktuelle Arbeit deutlich, dass hier im Vergleich zum Rest Europas eine sehr hohe Artenvielfalt existiert", erklärte Jan Christian Habel vom Fachbereich Umwelt und Diversität der Universität Salzburg dem deutschen Science Media Center. "Somit trägt Österreich eine besonders große Verantwortung für den Erhalt von Artenvielfalt." Zahlreiche Studien würden belegen, dass auch hierzulande die Zahl der Pflanzen- und Insektenarten stark rückläufig ist. "Eine politische Reaktion ist in Österreich und EU-weit überfällig", meint der Experte, der ebenfalls nicht an der aktuellen Studie beteiligt war.

Doch die Forscher sehen auch Grund zur Hoffnung: Neuansiedlungen von Tierarten und ein besonderer Schutz können helfen, die Artenvielfalt zu erhalten. "Wichtig ist, Maßnahmen zum Schutz gefährdeter Arten einzuleiten. Diese zeigten bei Wirbeltieren ja schon viel Erfolg, was die Ausbreitung früher gefährdeter Arten wie Schwarzstorch, Seeadler, Wanderfalke, Uhu und Fischotter beweist", so Hochkirch. "Es ist wichtig, die notwendigen Erhaltungsmaßnahmen rechtzeitig umzusetzen. Wir verfügen bereits über genügend Beweise, um zu handeln – was uns fehlt, sind Taten." (red, APA, 9.11.2023)