
Herbst ist die Zeit, sich zu Hause wie in einer Höhle zu verkriechen, mit Tee und Büchern, die man schon so lange lesen will. Wer zu Francesco Sauros "Der verborgene Kontinent" greift, kann so bequem und geschützt Höhlensysteme kennenlernen, die sonst nur erfahrenen Kletterern zugänglich sind. Auf jeden Höhlenmeter, der erforscht wurde, kommen auf der Erde zehntausende Kilometer unbekannter Gänge, die uns teilweise für immer verborgen bleiben werden.
Der Italiener Francesco Sauro erkundete Gletscherhöhlen in Grönland, die einerseits binnen Sekunden einbrechen können, andererseits uralte Bakterienstämme beherbergen. Und er begab sich in die 50 Grad Celsius heißen Höhlen eines mexikanischen Bergwerks. Eine Art Kristallfabrik, wie man sie aus der Spielzeugabteilung kennt, nur ungemein größer: Nach dem Abpumpen des Wassers wurden meterlange weiße Selenitkristalle enthüllt.

Berufung Höhlenforscher
Wenn man den zurückhaltend wirkenden Geologen in Videos sieht, würde man ihm nicht unbedingt jene Höhlenobsession zuschreiben, die in seinem Buch deutlich wird. Sauro sucht seit Kindertagen in Norditalien, die Geheimnisse der Gänge unter uns zu erkunden. Seitdem hat der Höhlenforscher – oder Speläologe – die ganze Welt bereist und geht immer wieder an die Grenzen der eigenen Belastbarkeit. Dass sich die Besessenheit und seine Überlebensfähigkeiten die Waage halten, macht seinen Erfolg aus.
Dieser hat ihn sogar ins Europäische Astronautenzentrum in Köln geführt: Für die Esa und andere Raumfahrtorganisationen ist Sauro an unterirdischen Missionen beteiligt, um Astronautinnen und Astronauten für Einsätze auf der Internationalen Raumstation ISS oder sogar auf Mond und Mars vorzubereiten. Die finstere, kalte und isolierte Umgebung weist einige Parallelen zum Weltraum auf. Der Crew fehlt die sonst im Training übliche Gewissheit, dass sie sich in einer Simulation befindet.
Persönlich und lebendig erzählt der Höhlenforscher von historischen Entdeckungsreisen seiner Vorgänger (meist Männer), auf deren Spuren er wandelt. Eine ganz besondere Verbundenheit entsteht, wenn man Freude und Leiden der anspruchsvollen Expeditionen miteinander teilt. Nostalgisch erinnert er sich an den Geruch von Karbidlampen, die von LEDs ersetzt wurden. Die verstörende Stille in einer Höhle wird manchmal durchbrochen von schaurigen Geräuschen, deren Verursacher manchmal nur ein Siebenschläfer ist, der sich an mitgebrachten Tortellini gütlich tut.

Manchmal, wenn Sauro über "schwingende Entdecker-DNA" oder einen Dinosaurier, der sich in einen Vogel "verwandelt" hat, schreibt, wünscht man sich mehr wissenschaftliche Präzision. Einen Baudelaire'schen Abgrund erkennt er in sich auf der Suche nach dem tiefsten Höhlenboden, der nie ganz erreicht wird und im Gegensatz zu Berggipfeln kaum messbar ist, doch im Philosophieren erscheint er teils widersprüchlich. Offensichtlich versucht der Autor aber, dem Lesepublikum einen anschaulichen Eindruck zu verschaffen von Orten, die uns das Fürchten lehren, an unseren Sinneswahrnehmungen zweifeln lassen und unserer Vorstellungskraft eine weitläufige, steingerunzelte Oberfläche bieten.

Grenzerfahrungen
Das kann Forscherinnen und Forscher an die psychische Belastungsgrenze bringen: Bei der Erforschung der rund 30.000 Jahre alten Malereien in der französischen Chauvet-Höhle mussten sie immer wieder pausieren, weil das Erlebnis derart überwältigend war. "Besuche in Höhlen können die Sicht auf die Welt verändern", erzählte der deutsche Filmemacher Werner Herzog Francesco Sauro bei einer Begegnung. Für den Dokumentarfilm "Die Höhle der vergessenen Träume" hatte er in dieser nicht öffentlich zugänglichen Grotte gearbeitet.
Als Lichtmalereien bezeichnet Sauro die Höhlenfotografie, die den Draußengebliebenen einen Eindruck vom Innenleben des "verborgenen Kontinents" vermittelt. Auch im Buch helfen Fotos der Vorstellungskraft auf die Sprünge. Das Erlebnis wird so freilich nicht voll eingefangen. Dafür spart man sich beim Schmökern daheim die gefährliche Reise. (Julia Sica, 12.11.2023)
