Wegen des Kriegs gegen die Ukraine gibt es in Deutschland und Frankreich nun mehr Bereitwilligkeit, die EU-Erweiterung voranzutreiben. Doch die Frage bleibt, wie dies geschehen soll. "Hinter der enthusiastischeren Rhetorik verbirgt sich weitverbreiteter Pessimismus darüber, ob die Erweiterung schnell erfolgen kann oder sogar sollte", meint etwa Engjellushe Morina vom European Council on Foreign Relations über die Stimmung in anderen EU-Staaten.

Insbesondere die EU-Integration von südosteuropäischen Ländern ist in den vergangenen zehn Jahren nicht vorangekommen. Und die dortigen Regierungen wissen genau, dass es in der EU kein echtes Interesse gibt. Dies war und ist vor allem am Beispiel Nordmazedonien zu erkennen, das wegen des Vetos des Nachbarstaats Bulgarien noch immer nicht verhandeln darf, obwohl es gleichzeitig mit Kroatien bereits 2005 den Kandidatenstatus bekommen hat.

Demonstration in Belgrad.
In der serbischen Hauptstadt Belgrad wurde im Frühling gegen Korruption demonstriert.
AP

Im jüngsten Länder-Bericht der EU-Kommission zu Nordmazedonien wird angeraten, dass die Fähigkeit zur parlamentarischen Kontrolle der Geheimdienste gestärkt werden solle. Die umstrittene Entlassung des Präsidenten des Justizrates habe Anlass zu Bedenken hinsichtlich unzulässiger politischer Einflussnahme gegeben. "Korruption ist in vielen Bereichen nach wie vor weitverbreitet und gibt Anlass zur Sorge", moniert die Kommission. Besonders kritisiert wird, dass im beschleunigten parlamentarischen Verfahren die gesetzlichen Höchststrafen für korruptionsbezogene Straftaten gesenkt wurden, was zu Verjährungen von wichtigen Prozessinhalten führte.

Im Fall von Serbien wird die "hetzerische Sprache" im Parlament kritisiert. "Sanktionen und Geldstrafen wurden nur gegen Oppositionsabgeordnete verhängt", heißt es. Auch Fälle von Drohungen, Einschüchterungen und Gewalt gegen Journalisten seien Anlass zur Sorge. Zudem müsse den "von zahlreichen Medien verbreiteten EU-feindlichen Narrativen" entgegengewirkt werden. Im Bereich des Justizsystems habe Serbien aber einige Fortschritte erzielt. Die EU erwartet zudem von Serbien, dass es das "rechtsverbindliche Normalisierungsabkommen" mit Kosovo ermögliche und dass die Täter des Anschlags am 24. September im Norden Kosovos "gefasst und rasch vor Gericht gestellt werden".

Kosovo: Kompromisse gefragt

Auch von Kosovo werden ein "ernsthafteres Engagement" und mehr Kompromisse gefordert, wenn es um die Normalisierung mit Serbien geht. Im Bereich Rechtsstaatlichkeit wird moniert, dass "trotz verbesserter Leistung der Agentur für Korruptionsprävention" die Präventionsinstrumente zur Korruptionsbekämpfung "noch nicht vollständig genutzt werden". Kosovo befinde sich im Kampf gegen die organisierte Kriminalität in einem frühen Stadium. Bei der Untersuchung und Verfolgung von Fällen organisierter Kriminalität seien begrenzte Fortschritte erzielt worden. So wurde eine neue Organisationsstruktur der Polizei und verbesserte Aufklärungs- und Analysekapazitäten eingeführt.

Dem montenegrinischen Justizsystem wird eine "tiefe institutionelle Krise" attestiert. "Korruption, auch auf hoher Ebene, ist nach wie vor ein Problem und ist in vielen Bereichen, auch in staatlichen Strukturen, weitverbreitet", so die EU-Kommission. "Auch der Anstieg der Zahl der Femizide bei unzureichender Nachverfolgung durch die Behörden sowie Fälle von öffentlich geäußerter Frauenfeindlichkeit, geschlechtsspezifischer Gewalt und Gewalt gegen Kinder geben weiterhin Anlass zu großer Sorge."

Auch in Albanien "bleibt die Korruption ein Bereich, der Anlass zu großer Sorge gibt". Angesichts des Umstands, dass Italien Migranten, die einreisen wollen, künftig in Migrationszentren in Albanien unterbringen will, ist die Migrationspolitik interessant. "Beim Zugang zu Asylverfahren wurden keine Fortschritte erzielt, und es bestehen weiterhin Mängel bei den Rückführungsverfahren", heißt es zu Albanien. Auch der Umstand, dass viele Albaner und Albanerinnen in EU-Staaten Asylanträge stellen, wird kritisiert.

Eingriff des Hohen Repräsentanten

Im Fall von Bosnien und Herzegowina wird von der EU-Kommission angemerkt, dass der Hohe Repräsentant, Christian Schmidt, am Wahlabend des 2. Oktober das Wahlgesetz änderte, "was die Rechtssicherheit infrage stellte". Mangelnde Reformen werden kritisiert. Bei der "Bekämpfung der organisierten Kriminalität bestehen systemische Mängel", heißt es etwa. "Die Polizei ist anfällig für politische Einflussnahme. Auch Finanzermittlungen und Vermögensbeschlagnahmungen sind weitgehend wirkungslos. Ein proaktiver Ansatz bleibt von grundlegender Bedeutung, um der kriminellen Unterwanderung des politischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Systems entgegenzuwirken.“

Abgesehen davon "wurden keine Schritte zur Entwicklung sozioökonomischer Reformen im Einklang mit den Empfehlungen der Kommission" unternommen. Kritisiert wird vermehrt die politische Führung der Entität Republika Srpska (RS). "Das Verfassungsgericht hat mehrere rechtliche und politische Handlungen der Republika Srpska ausgesetzt oder aufgehoben. Die Entitätsführung beschloss dennoch, solche Gesetze durchzusetzen, was die Rechtssicherheit gefährdete“, heißt es.

Auch der Strafrechtsparagraf für Verleumdung in der RS beeinträchtige "das Umfeld der Zivilgesellschaft erheblich" und schränke die Meinungs- und Medienfreiheit ein. Kritisiert wird auch der Gesetzesentwurf in der RS, der zivilgesellschaftliche Gruppen als "ausländische Agenten" ins Visier nimmt.

Der Analyst Adi Ćerimagić von European Stability Initiative (Esi) meint, dass es kein Geheimnis sei, dass der Präsident der RS, Milorad Dodik,"seit Juli 2021 einen gut durchdachten und mit Russland koordinierten Plan zum Zusammenbruch der verfassungsmäßigen und institutionellen Architektur des Landes umgesetzt hat". Auch die EU und die Nato hätten erkannt, dass "dies Teil des umfassenderen Plans Russlands, die politische und sicherheitspolitische Architektur Europas anzugreifen", war.

Kritik am Westen

Die Eskalation konnte gestoppt werden, weil einige Parteien in Bosnien und Herzegowina bereit waren, "trotz aller negativen politischen Konsequenzen für sie politische Verhandlungen mit Dodik aufzunehmen und offen zu halten". Vor diesem Hintergrund sei es ziemlich überraschend, dass einige in der EU und der Nato Sarajevo trotzdem keine konkretere finanzielle, politische oder sonstige Unterstützung zukommen ließen, kritisiert Ćerimagić.

"Im heutigen Europa wird der Grad der Unterstützung für die Ukraine zu Recht an der Anzahl und Art der an die Ukraine gelieferten Waffen oder an der Anzahl der Ukrainer, denen Asyl gewährt wurde, gemessen", führt Ćerimagić aus. "Im Fall von Bosnien und Herzegowina bestand die größte Unterstützung darin, keinen Konflikt anzuzetteln, der die Aufmerksamkeit der EU oder der USA von der dringend notwendigen Konzentration auf die Ukraine ablenken würde.“

Die Einhegung prorussischer Kräfte auf dem Westbalkan ist tatsächlich für die demokratischen und prowestlichen Kräfte schwierig. Insbesondere Kosovo und Bosnien und Herzegowina sind gefährdet. Die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen stellte allerdings bei ihrem jüngsten Besuch nicht die Sicherheit, sondern einmal mehr wirtschaftliche Fragen in den Vordergrund.

EU statt gemeinsamer Markt

Sie forderte einen "Gemeinsamen Regionalmarkt auf der Grundlage von EU-Regeln und -Standards“. Die sechs Nicht-EU-Staaten auf dem Balkan sollten sich also wirtschaftlich zusammentun, so die Vorstellung in Brüssel. Dies ist angesichts der politischen und geopolitischen Verwerfungen allerdings äußerst unrealistisch und ist bereits in der Vergangenheit gescheitert. In der Region wird nämlich vor allem die Dominanz Serbiens gefürchtet.

Schon der jugoslawische Binnenmarkt wurde bereits ab dem Jahr 1961 aufgelöst, weil die Republiken eigene Prioritäten setzen wollten. Das Binnenmarktprogramm der EU aus dem Jahr 1992 zeigte hingegen eine demokratische Alternative zu Jugoslawien auf und war deshalb attraktiv. Einige Staaten in Südosteuropa wollen auch heute keinen gemeinsamen Markt, sondern sie wollen in den EU-Markt integriert werden. Das scheint in Brüssel noch nicht durchgesickert zu sein. Immer neue Forderungen an die Westbalkanstaaten führen aber dazu, dass die Erweiterung weiter verzögert wird. (Adelheid Wölfl aus Sarajevo, 10.11.2023)