Vor 101 Jahren öffnete der britische Archäologe Howard Carter ein Pharaonengrab, von dem die Ägyptologie bis heute zehrt. Die nahezu ungeplünderte Grabstätte des Pharaos Tutanchamun gewährte außergewöhnliche Einblick in die Ära einer ansonsten weniger markanten Gestalt des Neuen Reiches. Vieles deutete darauf hin, dass der junge Herrscher in aller Eile beigesetzt worden war, was wiederum bedeuten würde, dass der König unerwartet gestorben ist.

Tatsächlich ist Tutanchamun wahrscheinlich Anfang 1323 v. Chr. im Alter von nur 18 bis 20 Jahren zu Tode gekommen. Auf älteren Röntgenaufnahmen soll eine Schädelverletzung zu erkennen gewesen sein, weshalb immer wieder über einen "Mordfall Tutanchamun" spekuliert wurde. Bei Computertomografie-Untersuchungen im Jahr 2005 hat man jedoch keinerlei Brüche oder Verwundungen am Schädel festgestellt. Eine Kopfverletzung als Todesursache schied damit weitgehend aus.

Tutanchamun, Kairo, Totenmaske
Die goldene Totenmaske des Tutanchamun kann man im Ägyptischen Museum Kairo bestaunen.
Foto: AP/Amr Nabil

Beinverletzungen

Dafür entdeckten die Wissenschafter allerdings etwas anderes: ein bis zwei bis dahin unbekannte Oberschenkelbrüche des linken Beins sowie ein Bruch der rechten Kniescheibe und des rechten Unterschenkels. Der schlussendliche Befund der Forschenden spricht dafür, dass Tutanchamun einem Unfall zum Opfer fiel. Viele Ägyptologen vermuten ein Jagdunglück.

Zuletzt bekam die Hypothese größere Bedeutung, der junge König könnte bei einem Wagenunfall gestorben sein. Das würde auch durch die Tatsache unterstützt, dass Tutanchamuns Leiche das Herz entnommen worden war, ehe man ihn mumifizierte. Vielleicht wurde es bei dem Unfall so stark verletzt, dass es für die Reise ins Jenseits nicht mehr zu gebrauchen war, mutmaßen manche Experten.

Keine Heilungszeichen

Ob die vorhandenen Daten tatsächlich zu einem solchen "Verkehrsunfall"-Szenario passen, hat sich nun ein südafrikanisches Team von Medizinern genauer angesehen. „Die Tatsache, dass Balsamierungsharz an der Bruchstelle des linken Beins gefunden wurde, deutet darauf hin, dass es sich um eine frische Fraktur handelte, die kurz vor seinem Tod aufgetreten sein musste", berichteten die Chirurgen Sebastian van As (University of Cape Town) und Robin Brown (University of Limpopo) im "South African Journal of Surgery". Anzeichen einer Knochenheilung gab es demnach nicht.

Noch vor einem Jahrhundert hätten solche komplizierte Frakturen häufig ein Todesurteil bedeutet, meinen die Forscher. Das gilt umso mehr für die Zeit vor 3.300 Jahren, als zum Teil fragwürdige medizinische Praktiken vorherrschten. Dass am Todestag von Tutanchamun auch ein Streitwagen im Spiel war, sei auch deshalb naheliegend, weil sich im Grab des Königs mehrere in Einzelteile zerlegte Wägen fanden. Auch Darstellungen des jungen Pharaos, der in einem solchen Fahrzeug unterwegs ist, zierten die Wände der Anlage.

Tutanchamun, Knie
Auch eines der Knie Tutanchamuns wies Verletzungen auf, die er sich wahrscheinlich erst kurz vor dem Tod zugezogen hatte.
Foto: Supreme Council of Antiquities

Verräterische Brüche

Was die Brüche selbst betraf, fanden die Forscher einige Besonderheiten: "Die Art der Fraktur, die Tutanchamun erlitt, kommt heute bei Kindern äußerst selten vor", so Brown. Diese komplizierte sogenannte distale juxta-epiphysäre Femurfraktur (vom Rumpf entfernt und nahe der Gelenkszone) spricht in der Regel dafür, dass starke Brems- oder Beschleunigungsvorgänge oder Aufprallereignisse dem Bruch vorausgegangen waren.

"Derartige offene Frakturen können auch bei Stürzen aus großer Höhe auftreten, aber hier weisen die Umstände eher auf einen Wagenunfall hin", meint Van As. "Die Verletzungen können daher sehr wohl davon herrühren, dass Tutanchamun von seinem Streitwagen fiel. Während des Sturzes erlitt der junge Pharao mehrere Verletzungen, einen komplizierten Oberschenkelbruch und möglicherweise auch ein stumpfes Trauma des Brustkorbes." Die Folgen dieses Unfalls haben letztlich zum Tod von Tutanchamun geführt, so die Wissenschafter.

Drink and drive?

Die Hintergründe dieses Unglücks werden sich wohl nicht mehr klären lassen, und das liegt nicht zuletzt an der Revolution, die Tutanchamuns Vorgänger ausgelöst haben: Sein Vater Amenophis IV. änderte seinen Namen in Echnaton und erhob den Sonnengott Aton zum Reichsgott. Die Nachfolger freilich hielten davon nichts, nahmen wieder alles zurück und wollten diesen Teil ihrer Geschichte der Vergessenheit anheim fallen lassen. Dabei tilgten sie Echnaton, Tutanchamun, Semenchkare und Eje aus den Überlieferungen und Königslisten.

Und einen Punkt sollte man bei den Spekulationen um Tutanchamuns Tod nicht gänzlich außer Acht lassen: Das Grab des jugendlichen Herrschers war voller Alkohol. Die Archäologen bargen aus der Kammer eine große Menge von Gefäßen, die einst Wein enthalten hatten. Zwar sollte man daraus keine voreiligen Schlüsse ziehen, aber es wäre nicht der erste tödliche Unfall eines Teenagers, der mit Alkohol im Blut das Steuer übernommen hatte. (tberg, 16.11.2023)