Die Angriffe der israelischen Armee im nördlichen Gazastreifen gingen auch am Mittwoch unvermindert weiter.
AFP/FADEL SENNA

Als Gaza-Chef der UN-Hilfe für palästinensische Flüchtlinge (UNRWA) war Matthias Schmale Druck von allen Seiten ausgesetzt: Israel warf ihm Nähe zur Hamas vor, die Zivilisten in Gaza machten ihn für Sparprogramme der UN verantwortlich – und zum Schluss musste Schmale aus Angst vor Angriffen überstürzt den Gazastreifen verlassen. Nachdem er 2021 in einem Interview gesagt hatte, Israels Luftschläge seien "präzise und ausgeklügelt", hatte ihm die Hamas den Polizeischutz entzogen.

STANDARD: Israel hat nun zugestimmt, dass eine begrenzte Menge an Treibstoff an die UN in Gaza geliefert werden darf – allerdings nicht an Krankenhäuser. Man habe Angst, dass er in die Hände der Hamas geraten könnte. Verstehen Sie das?

Schmale: Eigentlich nicht. In meinen Jahren im Gazastreifen hatten wir sehr klare Abkommen mit den Israelis über das, was wir in Gaza eingebracht haben – Baumaterial für Schulen etwa. Sie hatten Ingenieure, die genau berechnet haben, ob die Mengenangaben an Zement oder Treibstoff richtig sind für den Zweck, den wir angegeben haben. Zwar ist der Vorwurf auch damals hochgekommen – aber interessanterweise weniger von unseren direkten israelischen Partnern. Die haben uns vertraut, dass das zweckgemäß verwendet wurde.

STANDARD: Wie war es möglich, das Tunnelsystem der Hamas zu bauen, wenn nichts abgezweigt wurde?

Schmale: Die Frage verstehe ich. Ein Teil des Tunnelsystems soll schon vor Hamas-Zeiten bestanden haben, aber bestimmt nicht in diesem Ausmaß. Mir ist es ehrlich gesagt bis heute schleierhaft, wie es möglich war, Material für Tunnelbau, aber auch diese vielen Raketen reinzubringen. Es ist aber Unfug, den UN vorzuwerfen, dass sie daran beteiligt waren. Unsere Projekte wurden ja kontrolliert. Diplomaten waren da und haben überprüft, ob wir mit dem Zement Schulen gebaut haben – oder Tunnel.

STANDARD: Sie kennen das Al-Shifa-Krankenhaus gut. Kannten Sie die Vorwürfe, dass sich im Untergrund die Hamas-Infrastruktur befindet?

Schmale: Ja. Die Hamas hat sich die sichersten Einrichtungen ausgesucht – dazu gehören auch Krankenhäuser. In meiner Zeit haben wir auch unter unseren Schulen zweimal Tunnel entdeckt. Das war einer der wenigen Fälle, wo ich mich direkt eingemischt und Hamas-Leute getroffen habe. In einem Fall haben die es erst mal abgestritten. Ich habe gesagt: Wenn Sie es nicht glauben, dann gehen wir da jetzt zusammen hin. Wir haben die Tunnel dann mit Flüssigzement zugemacht.

Matthias Schmale vergangene Woche in New York
Matthias Schmale: "Auch Kriege haben Regeln."
IMAGO/ZUMA Wire

STANDARD: Verstehen Sie den Vorwurf an die UNRWA, dass man in Gaza gemeinsame Sache mit Terroristen macht?

Schmale: Ja. (seufzt) Ich war früher beim Roten Kreuz und auch in Afghanistan, als die Taliban das erste Mal an der Macht waren. Da gab es diese Diskussion auch. Man kann aber humanitäre Hilfe nicht leisten, ohne mit den Leuten vor Ort pragmatische Abstimmungen zu treffen. Und ich habe immer betont: Sich abstimmen heißt nicht zustimmen – schon gar nicht ideologisch. Man kann nichts von dem rechtfertigen, was die Hamas am 7. Oktober gemacht hat.

STANDARD: Im Jahr 2021 haben Sie die israelischen Luftschläge als "präzise" bezeichnet, worauf Sie von der Hamas bedroht wurden. Sehen Sie diese Präzision auch heute noch?

Schmale: Ich erlebte es damals so, dass die Schläge präzise waren, aber in diesem Krieg würde ich das nicht mehr so sehen. Das Ausmaß der Zerstörung, die Zahl der Toten, der toten Kinder – für mich sieht das mehr nach kollektiver Bestrafung aus.

STANDARD: Das ist ein schwerer Vorwurf. Worauf stützen Sie ihn?

Schmale: Ist es nicht kollektive Bestrafung, wenn man eine gesamte Bevölkerung von der Außenwelt abriegelt und ihr Nahrung und Trinkwasser vorenthält? Dazu kommen die Zahlen: In den elf Tagen 2021 sind 250 Zivilisten umgekommen, darunter 60 Kinder. Jetzt waren es im gleichen Zeitraum 2.000 Tote und 500 Kinder.

STANDARD: Die Opferzahlen stammen von Hamas-kontrollierten Behörden. Kann man ihnen trauen?

Schmale: Die Fragen gab es immer, wir waren da auch immer skeptisch. In dem Moment, wo wir es im Nachhinein überprüfen konnten, haben sich die Zahlen aber als recht verlässlich erwiesen. Die Zahlen werden ja von den Mitarbeitern der Krankenhäuser ans Gesundheitsministerium gemeldet. Die Mehrheit der Mitarbeiter dort sind keine Hamas-Anhänger, die machen ihre Arbeit. Es würde mich überraschen, wenn nach dem Krieg rauskommt, dass die Zahlen weit daneben liegen.

STANDARD: Die hohe Zahl ziviler Opfer liegt auch daran, dass sich die Hamas hinter zivilen Zielen verschanzt.

Schmale: Ich bin kein Militärexperte, ich kann das nicht beurteilen. Natürlich kann man sagen: Es ist Krieg, und in Kriegen kommen Leute um. Aber unsere Haltung ist, dass auch Kriege Regeln haben. Mein Eindruck ist, dass diese Regeln nicht immer so respektiert werden, wie man das erwarten muss von einem demokratischen Staat wie Israel.

STANDARD: Aus Ihrer Erfahrung in Gaza: Wie stark ist der Rückhalt der Hamas in der Zivilbevölkerung?

Schmale: Mein Eindruck war, basierend auf vielen Gesprächen, dass die Zustimmung damals sehr stark zurückgegangen ist. Dieser Zynismus, dass die Hamas-Führung im Ausland lebt und es sich dort sehr gutgehen lässt: Da gab es viel Kritik. Hätte es damals Wahlen gegeben, hätte es mich sehr überrascht, wenn die Hamas diese gewonnen hätte.

STANDARD: Immer wieder gab es den Vorwurf, dass in UNRWA-Schulen Lehrbücher mit antisemitischen Inhalten verwendet wurden. Was entgegnen Sie?

Schmale: Man muss wissen: Es sind keine UN-Bücher, sondern die Schulbücher der Palästinenserbehörde (PA). Natürlich konnten wir uns als UN aber nicht aus der Verantwortung ziehen. Wir haben deshalb in Amman ein ganzes Team aufgebaut, um die Inhalte der Schulbücher zu überprüfen. In fünf Prozent der Bücher haben wir einen kleinen Prozentsatz an problematischen Stellen entdeckt. Wir haben unsere Lehrer geschult, dass sie das weglassen oder, wenn die Schüler alt genug waren, man mit ihnen bespricht, dass gewisse Dinge einfach nicht vertretbar sind. Ich war oft in Schulen, und mein Eindruck war, dass die Lehrer schon verstanden haben, dass sie für die UN arbeiten – und nicht für die PA.

STANDARD: Welche Lösung würden Sie sich für Gaza wünschen?

Schmale: Was sich wohl viele Palästinenser wünschen, ist ein Staat, in dem es freie Wahlen und Alternativen gibt. Selbst wenn es gelingt, die Hamas auszulöschen, ist aber die Frage, was der langfristige psychische Schaden bei den Menschen ist, die Angehörige, Freunde, Nachbarn verloren haben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie am Tag danach einfach zur Tagesordnung übergehen und sagen: Jetzt schließen wir Frieden mit Israel. Mir hat letztens ein Freund aus Gaza gesagt: Wir haben mindestens eine Generation verloren. Und er meinte: eine Generation, die bereit zum Frieden ist. (Maria Sterkl, 16.11.2023)