Die Erwartungen im Vorfeld der Veröffentlichung von "Realms of Ruin" waren gewaltig: Zuerst soll das Spiel die Fantasy-Sparte von "Warhammer", "Age of Sigmar", endlich aus dem Schatten von "Warhammer 40.000" holen. Zweitens soll es an die glorreiche Tradition der beiden ersten Teile der "Dawn of War"-Serie anschließen. Und als wäre das nicht genug, soll "Realms of Ruin" gleich dem ganzen Genre der Echtzeitstrategie neues Leben einhauchen.

Eine dreifache Mammutaufgabe für das Entwicklerstudio Frontier aus England. Dort weiß man üblicherweise, was man tut, schreckt auch vor Großprojekten wie "Elite: Dangerous" nicht zurück und darf sich auch die mehr als nur soliden Management-Sims "Planet Zoo", "Planet Coaster" sowie die "Jurassic World"-Serie auf die Fahnen heften. Die Frage ist, natürlich: Kann das jüngste Werk gleich alle drei Aufgaben erfüllen? Die kurze Antwort: Nein, aber es ist verdammt nah dran.

Die Heldenfähigkeiten zaubern oft ein besonderes Effektgewitter auf den Bildschirm.
Screenshot DER STANDARD

Nur um ein Vorurteil auszuräumen: "Age of Sigmar" hat das immens populäre "Warhammer Fantasy" abgelöst und anfangs wegen eines wenig ausgereiften Settings und absurder Regeln (wer den größten Schnauzbart hat, gewinnt) viel Kritik eingesteckt. Das ist aber acht Jahre her. Mittlerweile ist die dritte Edition des Tabletop-Spiels erschienen, und diese gilt wegen komplexer, aber nicht komplizierter Regeln und liebevoll gestalteter Miniaturen in manchen Kreisen als das bessere Spiel als der Konkurrent aus gleichem Hause, "Warhammer 40k". Aber: "Age of Sigmar" wurde – vom inferioren "Storm Ground" einmal abgesehen – noch nie in einem Videospiel umgesetzt. Das bringt gewaltigen Druck: Das oft zu Unrecht gescholtene Franchise braucht dringend einen Erfolg, will man es in die Popkultur oder in die Videospielgeschichte schaffen.

"Company of Heroes" für Sigmar-Priester

"Realms of Ruin" soll es also richten. Entwickler Frontier setzt auf ein bewährtes Konzept: Wer schon einmal "Dawn of War 2" oder ein "Company of Heroes" gespielt hat, dürfte sich recht schnell wie zu Hause fühlen. Wir kontrollieren nur eine Handvoll Trupps auf einer recht überschaubaren Karte. Auf dieser gilt es Stützpunkte zu erobern, auf denen wir über ein sehr rudimentäres Bausystem entweder Ressourcengebäude, eine Heilstation für unsere Kriegerinnen und Krieger oder einen Geschützturm bauen dürfen. Das einzige "echte" Gebäude ist das Hauptquartier, über das wir Verstärkung anfordern oder Einheitenupgrades wie mehr Hitpoints oder Sonderfertigkeiten erforschen. Oft geht es darum, gewisse Siegpunkte eine Zeitlang zu halten, während die Punktezahl des Gegners nach unten tickt – neu oder besonders originell ist das alles nicht. Aber: Spaß macht es trotzdem.

Das liegt vor allem an der brachialen Wucht, mit der die Einheiten aufeinander losgehen. Wenn ein Trupp aus vier Liberators mit ihren gewaltigen Schilden durch den Friedhof der Nighthaunt stapft, spürt man förmlich, wie die Grabsteine unter den Schritten der schwer gerüsteten Krieger zittern. Wenn der Sturmdrache seine Feinde aus dem Sturzflug heraus angreift, werden die Gegner meterweit durch die Luft geschleudert. Gegnerische Barrikaden zersplittern, während Raptoren den Gegner unter Sperrfeuer ihrer Armbrüste nehmen.

Derartige Schlachtszenen bekommt man in "Realms of Ruin" im Minutentakt serviert: Überall kracht, blitzt und donnert es, Geschütze werden in Stellung gebracht und magische Armbrüste durchgeladen, während Horden von Gespenstern unheimlich mit den Ketten rasseln. In seinen besten Momenten macht das neue "Warhammer"-Spiel das, was Tabletop-Spieler vor ihrem inneren Auge haben, wenn sie ihre selbstbemalten Miniaturen über das Spielfeld schieben: Drachen setzen zum Sturzflug an, Dämonen schleudern unheiliges Feuer, und Magier entfesseln zerstörerische Zauber.

Das alles ist auch grafisch auf der Höhe der Zeit inszeniert: Selten hat ein Strategiespiel auch beim Hereinzoomen so gut ausgesehen wie "Realms of Ruin". Selbst beim höchsten Detailgrad kam es auf dem Testsystem (Ryzen 7 5800X3D, RX 6800 XT) zu keinen Rucklern oder Einbrüchen der Framerate.

Diese Liberatoren sind gerade aus dem Realmgate gekommen. Die Lichtstimmung ist beeindruckend.
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Die Einheitenmodelle sind bis ins kleinste Detail aus dem Tabletop entnommen. Das hat den Vorteil, dass die Charaktermodelle einfach großartig aussehen. Nicht umsonst gelten die Miniaturen von Games Workshop als die besten der Welt. Wer also ohnehin schon knietief im Hobby steckt, dürfte sich gleich zurechtfinden. Die Frage ist, ob das auch Neulingen gelingt, denn einen Annihilator von einem Evocator zu unterscheiden oder den Unterschied zwischen einem Pink Horror und einem Blue Horror zu kennen dürfte nur in Nischenkreisen als Allgemeinwissen voraussetzbar sein. Aber nachdem man ohnehin nie große Armeen, sondern maximal ein Dutzend Trupps kommandiert und die Zahl der unterschiedlichen Einheitentypen ebenfalls begrenzt ist, dürfte die Einarbeitungszeit nicht allzu lange ausfallen.

Brachial banal

Wenn wir schon beim Thema Komplexität sind: Das ist wahrscheinlich die größte Schwäche von "Realms of Ruin". Denn so brachial das Spiel auf der einen Seite ist, so banal ist es auf der anderen. Die meisten Einheiten verfügen über eine bis zwei Sonderfertigkeiten, die wir im richtigen Moment zünden. Ansonsten gibt es nicht allzu viel zu tun: Sind unsere Truppen einmal im Kampf verkeilt, bleiben sie dort, bis wir den Befehl zum Rückzug geben. Wie in "Company of Heroes" löst sich die Einheit dann, wird fast unverwundbar und rennt im Eiltempo zur heimatlichen Basis, wo sie langsam geheilt wird. Sollte eine Einheit doch einmal sterben, können wir sie gegen eine kleine Gebühr erneut anfordern. Auch das Ressourcenmanagement ist bestenfalls als unterkomplex zu bezeichnen: Es gibt Kommandopunkte und Realmstone, die beide über Gebäude auf Stützpunkten generiert werden und kaum zur Neige gehen, solange man genug Gebiete unter Kontrolle hat.

Natürlich gibt es auch einen eigenen Bemalmodus. Die Farbe der Stormcast Eternals auf diesem Bild ist natürlich rein zufällig gewählt und keine Anspielung auf die Ultramarines der zweiten Kompanie.
Screenshot DER STANDARD

Das bedeutet aber nicht, dass "Realms of Ruin" ein besonders einfaches Spiel wäre, selbst auf dem zweiten der vier Schwierigkeitsgrade tritt der Gegner unseren Stormcast Eternals gerne einmal in den Blechhintern. Ständig muss man aufpassen, nicht zu viele Außenposten zu verlieren, und ständig hat man das Gefühl, als würde stünde man ganz kurz davor, das Gefecht zu verlieren, selbst wenn man eigentlich die Oberhand hat. Das spricht einerseits für ein gutes Balancing, andererseits ist "Realms of Ruin" kein Spiel, das man zur Entspannung auf der Couch zockt, denn das Herumscheuchen der eigenen Truppen kann schon in Stress ausarten. Aufgrund von Community-Feedback wurde das Spieltempo im Vorfeld um 30 Prozent erhöht, und auch jetzt gibt es noch heftige Diskussionen über das angeblich "langsame" Spieltempo. Der leicht angejahrte Tester würde sich angesichts dessen dennoch einen Schneckenmodus für junggebliebene Gaming-Senioren wünschen.

Abwechslung in der Kampagne

Dass es einen solchen Spielmodus nicht gibt, ist eigentlich überraschend, denn "Realms of Ruin" ist voll mit Extras. Zum einen gibt es einen Bemalmodus für die eigenen Einheiten, wer seine Sigmariten also wie Space Marines aus "Warhammer 40k" aussehen lassen möchte, kann sich austoben. Dann gibt es neben der Hauptkampagne noch prozedural generierte Feldzüge, in denen wir auf einer Landkarte um die Vorherrschaft kämpfen. Das klingt spannender, als es letztlich ist, denn hier werden hauptsächlich Standardschlachten geboten, die sich nur durch einzelne Missionsziele ein wenig voneinander unterscheiden. Ein netter Zeitvertreib oder als Training für den Multiplayermodus taugen diese Feldzüge allemal.

Kern ist natürlich die Hauptkampagne, die eine von "Warhammer"-Autor Gavin Thorpe mitverfasste Geschichte erzählt. Diese ist ganz clever geschrieben und hebt die Stormcast Eternals in die Hautprolle, wechselt aber während der rund 15 Stunden auch gerne die Perspektive und lässt uns auch die Orruks oder die Armeen des Tzeentch spielen. Nur die Nighthaunt kommen in der Hauptgeschichte nur als Feindfraktion vor. Die Kampagne ist auch deutlich abwechslungsreicher geraten: Einmal müssen wir einen Hinterhalt für einen Konvoi legen, ein anderes Mal die Ketten des Todesgottes Nagash selbst sprengen. Erzählt wird die Story mit handwerklich einwandfrei gemachten Zwischensequenzen zwischen den Missionen. Die deutsche Sprachausgabe ist zwar in Ordnung, schießt aber über das Ziel hinaus. So wurden die Stormcast Eternals mit "Sturmgeschmiedete Ewige" ein wenig zu wörtlich übersetzt. Außerdem passen die deutschen Texte nicht immer in die dafür vorgesehenen Fenster und weisen auch den einen oder anderen Tippfehler auf. Deshalb gibt es an dieser Stelle eine klare Empfehlung für die Variante auf Englisch.

Im Multiplayermodus stehen 1-vs.-1- sowie 2-vs.-2-Gefechte zur Verfügung. Außerdem ist es möglich, ein benutzerdefiniertes Spiel zu generieren. Auf Wunsch kann man auch im 2er-Koop gegen die KI antreten. Der Multiplayermodus konnte vom STANDARD aktuell aber noch nicht ausgiebig genug getestet werden, um seriöse Aussagen über dessen Qualität zu machen.

Die KI: Auweh

Gröbere Bugs waren in der Testversion einen Tag vor dem offiziellen Release am Freitag nicht festzustellen. Nur die künstliche Intelligenz der eigenen Truppen sorgte manchmal für Aussetzer. Warum sehen unsere Liberatoren tatenlos zu, während ihre Kameraden nebenan von Orks massakriert werden? Warum lassen sich unsere Fernkämpfer von hinten beschießen, ohne auch nur eine Sekunde das Feuer zu erwidern? Und warum marschieren die eigenen Einheiten einfach manchmal durch die Gegner durch, obwohl wir ihnen explizit den Befehl "marschieren und kämpfen" mittels der F-Taste gegeben haben? Derartige Momente lassen den Stress eines Echtzeitstrategiespiels dann in Frust ausarten. Im Bereich der KI bleibt die Hoffnung, dass Frontier bald mit einem Patch Abhilfe schafft.

Fazit: Satte Action, weniger Tiefgang

Zuerst zur guten Nachricht: "Realms of Ruin" macht vieles richtig. Die Kampagne vermag zu unterhalten, das Spielprinzip ist nicht neu, funktioniert aber immer noch bestens. Die Kämpfe sind wuchtig, und es macht einfach Spaß, seinen Einheiten im Gefecht zuzusehen. Dazu kommen ein bombastisches Sounddesign und ein Soundtrack, der bei mir sicher im Hintergrund der nächsten Tabletop-Partie laufen wird.

Die schlechte Nachricht: "Realms of Ruin" ist kein Spiel, das ausgeklügelte Strategien oder gefinkelte Manöver erfordert. Stattdessen setzt es mehr auf schnelle Gefechte und satte Action. Auch wenn das viele anders sehen und mehr Tempo fordern, hätte ich mir vor allem in der Kampagne mehr Zeit zum Durchschnaufen gewünscht. Aber das mag auch an meinem fortgeschrittenen Alter liegen. Manchmal ist mir das Spiel einfach zu stressig. Dafür bekommt man eine Inszenierung, die es so im Genre schon viel zu lange nicht mehr gab. Wer auf komplexen Basenbau verzichten kann, schnelle Action mag oder "Dawn of War 2" für die Spitze der Videospielentwicklung hält, liegt bei "Realms of Ruin" goldrichtig. (Peter Zellinger, 17.11.2023)