Junges Mädchen sitzt fernsehschauend auf dem Sofa, vor ihm liegt ein Tablet.
Auf diesem Foto sind nicht nur die Schuhe auf dem Sofa problematisch: Was viele Stunden täglich vor Bildschirmen für das Gehirn bedeuten, versuchen Forschungsgruppen auf der ganzen Welt herauszufinden.
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Kinder sind gefinkelt: Verbietet man ihnen etwas, finden sie Mittel und Wege, es trotzdem zu tun. Das ist mit Digital Natives heute ähnlich wie vor zehn Jahren: Die Jungen, die mit einer Masse an elektronischen Geräten aufwachsen, können sie oft versierter bedienen als ältere Familienmitglieder. Im Magazin der "Süddeutschen Zeitung" erzählten kürzlich schon Zehnjährige, wie sie eingeschränkte Bildschirmzeit an Smartphones und Tablets umgehen. Emil stibitzt das Handy der Mutter, um seinem eigenen Gerät eine Erlaubnis zu schicken, Klara kennt den Code des Vaters und plant mit ihrer Schwester, sich heimlich gegenseitig mehr Zeit am Bildschirm zu erlauben.

Es erscheint unfair, dass die Eltern länger vor den Gadgets hängen "dürfen" als kleine Kinder, hat aber einen entwicklungsbiologischen Grund. In jungen Jahren werden wichtige Hirnstrukturen in immensem Ausmaß (weiter-)geformt, gesunde Einflüsse gelten als besonders wichtig – sowohl bei der Ernährung als auch bei vielen anderen Einflüssen aus der Umwelt. Nun erschien eine zusammenfassende Forschungsarbeit über messbare Auswirkungen der Bildschirmzeit auf das Gehirn von Kindern im Alter von sechs Monaten bis zwölf Jahren.

"Es ist bekannt, dass die visuelle Entwicklung vor allem vor dem achten Lebensjahr stattfindet, während die Schlüsselzeit für den Spracherwerb bis zu einem Alter von zwölf Jahren reicht", heißt es in einer begleitenden Aussendung. Ein Team um Neurowissenschafter Hui Li, der etwa an der Shanghai Normal University in China und der australischen Macquarie University in Sydney forscht, zog für diese Review im Fachjournal "Early Education and Development" 33 Studien heran, die zwischen 2000 und dem Frühjahr 2023 veröffentlicht wurden.

Nicht mehr als eine Stunde pro Tag

In diesen Studien wurden bildgebende Verfahren wie Magnetresonanztomografie (MRT) verwendet, um Zusammenhänge zwischen der Entwicklung des Gehirns und der Nutzung digitaler Medien zu untersuchen. Darin ging es sowohl um Fern- und anderes Videoschauen als auch um Computerspiele. Mehr als 30.000 Kinder hatten an den Studien teilgenommen.

Wie so oft kann man nicht ausschließlich von positiven oder negativen Effekten auf die Gehirnentwicklung sprechen: Die Forschungsgruppe fand Indizien für beides. Allerdings hält sie fest, dass die als negativ bewerteten Auswirkungen überwiegen. Struktur und Funktion der jungen Gehirne würden durch die frühen digitalen Erfahrungen erheblich beeinflusst.

Betroffen sind vor allem Veränderungen im präfrontalen Kortex, der sich hinter der Stirn befindet. In diesem Bereich werden generell etwa Emotionen und impulsives Verhalten reguliert. Die Änderungen durch starke Nutzung digitaler Medien könnten den Ergebnissen zufolge Planungsfähigkeiten und das flexible, angemessene Reagieren auf Situationen sowie den "Arbeitsspeicher" des Gehirns beeinträchtigen. Veränderungen zeigen sich zudem naheliegenderweise in Hirnregionen, die für Gedächtnis, Hören, Sprache, die Interpretation visueller Reize und andere sinnliche Reize (Temperaturempfinden, Schmerz, Berührung) zuständig sind.

Entwicklungspsychologen und Medienpädagoginnen wie Sonja Messner befürchten, dass mannigfaltige Sinneserfahrungen – vom Tasten bis zum Riechen – jenen Kleinkindern abgehen, die ihre Reize vor allem aus Bildschirmen erhalten. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfiehlt für Kinder unter zwei Jahren gar keine Bildschirmzeit, bis zum Alter von sechs Jahren sollte es nicht mehr als eine Stunde pro Tag sein.

Vor- und Nachteile

Negative Auswirkungen stellte die Forschungsgruppe für verschiedene kognitive Prozesse fest. Studien deuten demnach darauf hin, dass mehr Bildschirmnutzung (und dadurch wohl weniger Zeit für andere Erlebnisse) vereinfacht gesagt mit schlechter untereinander verbundenen Gehirnbereichen zusammenhängt. Diese Bereiche betreffen Sprache und das Regulieren von Gedanken und Taten, was die Grundlage für das Treffen von Entscheidungen und für Problemlösung darstellt. Bei solchen Aufgaben und solchen, die Aufmerksamkeit erfordern, könnten Kinder mit viel Bildschirmzeit also Schwierigkeiten bekommen.

Der Auswertung zufolge haben gerätespezifische Studien festgestellt, dass junge Nutzerinnen und Nutzer von Tablets tendenziell bei Problemlösungsaufgaben schlechter abschnitten. Niedrigere Werte bei Intelligenztests und beim gesamten Gehirnvolumen erreichten Kinder, die Videospiele spielten und das Netz besonders stark nutzten.

Eine junge Frau sitzt an einem Tisch und arbeitet am Laptop, während neben ihr ein Kleinkind etwas an einem Tablet ansieht.
Filme und Videospiele können bei der Kinderbetreuung helfen, doch gibt es Hinweise darauf, dass lange Bildschirmzeiten die Gehirnentwicklung beeinträchtigen können.
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Freilich sind solche Ergebnisse immer mit Vorsicht zu genießen, im Positiven wie im Negativen. So muss die Größe des Gehirns nicht direkt mit besseren kognitiven Fähigkeiten zusammengehen, die Aussagekraft von IQ-Tests wird regelmäßig infrage gestellt. Es lässt sich auch argumentieren, dass Kinder, die virtuos durch virtuelle Welten steuern, gut an eine Welt angepasst sind, in der solche Kompetenzen besonders wichtig sind.

Sechs Studien lieferten außerdem Hinweise auf positive Einflüsse auf das Gehirn. Dokumentiert wurden etwa bessere Lern- und Konzentrationsfähigkeiten. Die Ergebnisse zeigen auch, dass Videospiele kognitive Fähigkeiten verbessern können. Dies kann wiederum zum Beispiel Kontrollfunktionen, Gedächtnis und die Fähigkeit, zwischen Aufgaben hin- und herzuwechseln, betreffen.

Gute Serien für Kleinkinder

Zu bedenken ist, dass die Forschungsarbeit nicht feststellt, ob vermehrte digitale Nutzung und damit viel Zeit am Bildschirm für die beobachteten Veränderungen im Gehirn sorgte oder bestimmte kognitive Prozesse und Lernerfahrungen, die damit einhergingen oder nicht. Zudem bleibt es schwierig, zwischen verschiedenen Geräten und der Art der Nutzung zu unterscheiden. Das legt die Folgerung nahe, dass es wie häufig auf den Kontext ankommt – etwas, das auch Fachleute immer wieder betonen. Ein gemeinsames, zeitlich begrenztes Ansehen von (und Sprechen über) Sendungen, die vielleicht sogar Wissen vermitteln, ist sinnvoller als das "Abstellen" eines Kindes vor einer nicht altersgerechten Serie, um es vom Weinen oder Toben abzulenken.

Wenn es um Kleinkinder geht, sei es demnach besonders wichtig, sie visuell nicht durch stressige, actionreiche Videos zu überfordern, wie hier ausgeführt wird. Als Beispiele für ruhigere Programme werden "Peppa Wutz", "Bobo Siebenschläfer" und die "Sendung mit der Maus" genannt; eine nicht repräsentative Umfrage in der STANDARD-Redaktion lieferte zudem "JoNaLu", "Anna und die wilden Tiere", "Kikaninchen" und die US-amerikanische Serie "Dino Dana" als Empfehlungen.

In der zusammenfassenden Forschungsarbeit formulieren die chinesischen Wissenschafter, die angaben, die Analyse ohne potenziellen Interessenkonflikt durchgeführt zu haben, ihre Schlussfolgerungen zurückhaltend. Eltern, Betreuende sowie Pädagoginnen und Pädagogen sollten sich dessen bewusst sein, dass die Nutzung digitaler Medien einen Einfluss auf die Hirnentwicklung haben könne, sagt Studienautor Li. "Die Begrenzung der Bildschirmzeit ist ein wirksamer, aber auch konfrontativer Weg" – und entsprechend oft nicht einfach. Er und sein Team plädieren dafür, dass politische Entscheidungstragende Unterstützung bieten, indem sie Programme fördern, die eher zu positiver Gehirnentwicklung der Kinder beitragen. (sic, 17.11.2023)