
Bei Bier und Brot geht’s leicht. Fast unbemerkt von der Öffentlichkeit haben Arbeitnehmer und Arbeitgeber in der Brauindustrie und bei Bäckereien vor kurzem ihre Lohnabschlüsse geschafft. Trotz einer Inflation von fast zehn Prozent, über das vergangene Jahr gerechnet, haben die Sozialpartner dieser Branchen nur zwei Verhandlungsrunden gebraucht, um zu einem Ergebnis zu kommen. Um satte 9,48 beziehungsweise 9,71 Prozent steigen die Einkommen in Brauereien und Bäckereien.
Was in diesen kleinen Branchen gelungen ist, klappte in der großen metalltechnischen Industrie bereits sechs Mal nicht. Die Gewerkschaft will 11,6 Prozent mehr Lohn. Die Arbeitgeber bieten um die sechs Prozent Lohnerhöhung plus eine Einmalzahlung von 1200 Euro. Weil die Verhandlungen feststecken, wurde zunächst ein Warnstreik ausgerufen. Vergangene Woche wurden dann einzelne Betriebe tageweise mit Streiks lahmgelegt. Am kommenden Montag wird noch einmal um eine Einigung gerungen werden. Sollte es diese nicht geben, kommt es wohl zu einer Ausweitung der Arbeitsniederlegungen.
Zwei Säulen
Das ist nicht bloß ein Knatsch in irgendeiner Branche. Die Metaller haben in Österreich immer noch die Lohnführerschaft inne: An ihren Abschlüssen orientieren sich auch die anderen großen Branchen, vom Handel angefangen. Die Art und Weise, wie der Gewerkschaft und der Wirtschaftskammer also eine Einigung bei den Metallern gelingt, wird auch darüber mitentscheiden, ob das Modell, nach dem die heimischen Lohnverhandlungen laufen, noch funktioniert. Das heißt freilich auch: Die Sozialpartnerschaft insgesamt steht auf dem Prüfstand. Denn die letzte intakte Machtsphäre von Kammern und Gewerkschaften wackelt.
Das System fußt in Österreich auf zwei Säulen. Da ist einmal das, was Kritiker gern als "Schattenregierung" bezeichnen. In den 1950er-Jahren begann die Zusammenarbeit der Sozialpartner, zu denen Arbeiterkammer (AK), ÖGB, Wirtschafts-und Landwirtschaftskammer gehören, in loser Form. Erste Errungenschaft waren fünf Lohn-Preis-Abkommen. Im folgenden Jahrzehnt wurde die Partnerschaft "verdichtet", wie das der Politikwissenschafter Emmerich Tálos formuliert.
In der Folge wurden wirtschaftspolitische Gesetze weitgehend von Arbeitgebern und Arbeitnehmern ausverhandelt und dem Parlament übergeben. Auf dem Höhepunkt ihrer Wirkungsmacht in den 1970er-Jahren lenkten Kammern und Gewerkschaft das Geschick des Landes über mehr als 200 Kommissionen und Ausschüsse mit. Sie schrieben Arbeitszeit- und Kartellgesetze, bestimmten das System der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und setzten Spielregeln bei der Ausländerbeschäftigung fest. In der Ölpreiskrise regelten sie, wie stark die Preise steigen durften.
Die Entmachtung
Diese Gestaltungsmöglichkeit haben Kammern und Gewerkschaften weitgehend eingebüßt, sagt der Politikwissenschafter Laurenz Ennser-Jedenastik. Das einst zentrale gemeinsame Gremium, die "Paritätische Kommission für Preis- und Lohnfragen", hat seit 1996 nicht mehr getagt. Die Entwicklung hat mehrere Gründe: Der EU-Beitritt führte zu einer Internationalisierung der Wirtschaftspolitik. Viele Entscheidungen werden in Brüssel getroffen und nicht mehr in Wien, in der Agrarpolitik sind es die meisten. Das Duopol der zwei Trägerparteien des alten Modells, also der SPÖ und ÖVP in Regierungsverantwortung, wurde aufgebrochen. Damit kein Missverständnis aufkommt: Arbeitgeber wie Arbeitnehmer nehmen weiterhin Einfluss auf Politik. Aber das funktioniert heute stärker über die Steuerung von Parteien und nicht mehr über eigene Foren.
Gewerkschaft und Arbeiterkammer sind eng verwoben mit der SPÖ. Wirtschafts- und Landwirtschaftskammer sowie Industriellenvereinigung (offiziell kein Sozialpartner) sind mit der ÖVP verzahnt. Die Einflussnahme geschieht dabei nach wie vor oft auf dem kurzen Weg. Gut 20 Prozent der Nationalratsabgeordneten sind aktuelle oder frühere Funktionäre aus der Sozialpartnerschaft, auch wenn der Wert in der Vergangenheit natürlich höher war. Wenn die türkis-grüne Koalition Corona-Hilfen verteilt oder Energiekostenzuschüsse für Unternehmen beschließt, dann deshalb, weil Arbeitgeberverbände sich dafür bei der ÖVP starkgemacht haben. Bei der SPÖ ist es schon länger her, dass Arbeitnehmerverbände Gesetze mitgeschrieben haben, weil die Sozialdemokratie seit 2017 nicht mehr in der Regierung ist: Das Spiel lief dort aber ident ab.
Gemeinsame gesetzgeberische Initiativen der Sozialpartner sind heute höchstens teilweise erfolgreich. Im März 2022 beispielsweise legte man eine gemeinsame Wunschliste für die Regierung vor, um gegen die hohe Inflation anzukämpfen. Zentrale von den Sozialpartnern geforderte Punkte wie eine Mietpreisbremse sind bis heute nicht umgesetzt, die Senkung der Mineralölsteuer kam nie.
Lohnfindung
Während die Sozialpartner also ihre Rolle als "Schattenregierung" verloren haben, ist die zweite Säule, auf dem das System fußt, bisher intakt: die Lohnfindung. Arbeitgeber und Arbeitnehmer regeln ihre Angelegenheiten hier direkt – ohne Staat. Die Abdeckung über Kollektivverträge ist eine der höchsten der Welt in Österreich und liegt bei 98 Prozent. In Deutschland sind es nur um die 50 Prozent.
Es gibt in Österreich auch keinen gesetzlichen Mindestlohn. Dieser wird Branche für Branche ausverhandelt. Ein kollektivertragsloser Zustand macht keinen Sinn, weil der Abtausch von Interessen über Lohnrunden funktioniert. Das mussten in der vergangenen Woche auch die Arbeitgeber aus der Medienbranche erkennen, die eine zuvor ausgesprochene Kündigung des Tarifvertrags für Journalisten zurückgenommen haben.

Bewährtes System
Das System hat natürlich auch Schattenseiten. Es hat etwas Starres an sich. Wer nicht stabil beschäftigt ist, zu dieser Gruppe gehören vor allem Migranten, profitierte in den vergangenen Jahrzehnten deutlich weniger von Lohnsteigerungen.
Warum das System sich dennoch bewährte? Weil es für beide Seiten – zumindest bis jetzt – sinnvoll ist. Bei allen Lohnrunden gilt für alle dieselbe Faustregel: Abgegolten wird die Inflation plus das gesamtwirtschaftliche Produktivitätsplus. Das sichert für Arbeitnehmer steigende Einkommen, die sich allerdings nicht von Branche zu Branche zu stark auseinanderentwickeln. Der ÖGB garantiert dafür den Unternehmen Frieden. Es gibt keine kleineren, radikalen Gewerkschaften wie etwa in Frankreich. In Österreich wird so gut wie nie gestreikt. "Für den Standort ist diese Verlässlichkeit enorm wichtig", sagt der langjährige ehemalige Wirtschaftskammerchef Christoph Leitl. Dass es keinen diktierten Mindestlohn gibt, ermöglicht es jeder Branche, eigene Lösungen zu finden.
Der Staat als Retter in der Not?
Gerät dieses Modell angesichts des Streits bei den Metallern in Gefahr? Drei Szenarien, wie es weitergehen könnte, sind denkbar:
In Wahrheit ist aber auch diese dritte Option für die Sozialpartnerschaft riskant, weil ihre eigenständige Handlungsfähigkeit in Lohnfragen auf dem Spiel steht, wie Politologe Ennser-Jedenastik formuliert. Es geht um die Autonomie der Sozialpartner. Bereits in den vergangenen Jahren wurde ersichtlich, dass die Sozialpartnerschaft zunehmend staatliche Hilfe braucht, um zu funktionieren.
Kompromiss als Lösung
In der Pandemie wurde die Kurzarbeit von Arbeitgebern und Arbeitnehmern ausverhandelt, um Massenarbeitslosigkeit zu verhindern. Finanziert hat das der Staat, zehn Milliarden Euro kostete die Kurzarbeit. Dazu kamen viele Milliarden an Unternehmenshilfen.
In diesem Takt ging es auch in der Inflationskrise weiter, wieder wurden Hilfspakete geschnürt und Steuern gesenkt. Ohne diese Maßnahmen wären relativ reibungslose Tarifverhandlungen seit 2020 wohl unmöglich gewesen. Freilich: Je mehr sich der Staat einmischt, desto enger wird die Gestaltungsmöglichkeit für die Privatwirtschaft.
Die einzige sichere Alternative für beide Seiten, um mit dem System nicht zu brechen, bleibt der Kompromiss. Dieser müsste die Abdeckung der Inflationsrate beinhalten. Entweder allein über eine Lohnsteigerung oder gepaart mit weniger Arbeitsstunden. Das würde nicht voll ausgelasteten Betrieben helfen. Die Metaller würden dann dem Pfad der Bäcker und Brauer folgen. Und wenn es dann am Ende bei Bier, Brot und Metall geklappt hat, sollte das auch im Handel gelingen. (András Szigetvari, 19.11.2023)