Es war ein Prozess der Superlative: Auf der Anklagebank im Gerichtsbunker von Lamezia Terme in Kalabrien saßen 388 Personen; insgesamt hatte die Staatsanwaltschaft 4.744 Jahre Zuchthaus für die Mitglieder der kalabrischen Mafiaorganisation 'Ndrangheta beantragt. Die Anklageschrift hatte 400 Straftatbestände aufgelistet – fast das halbe Strafgesetzbuch. Die Delikte reichten von Erpressung und Raub über Drogenhandel, illegalen Waffen- und Sprengstoffbesitz bis hin zur Geldwäsche und anderen Wirtschaftsdelikten. Und natürlich wurde praktisch allen Beschuldigten Mitgliedschaft in einer mafiösen Vereinigung vorgeworfen. Weitere 70 Angeklagte wurden in einem separaten Prozess im Schnellverfahren abgeurteilt. Ein weiteres Verfahren – wegen vier besonders grausamer Morde – ist ebenfalls vom Hauptverfahren abgetrennt worden.

Drei Richterinnen sprachen das strenge Urteil gegen 388 Angeklagte.
Drei Richterinnen sprachen das strenge Urteil gegen 388 Angeklagte.
AP/Valeria Ferraro

Die Verlesung des Urteils im Hauptverfahren dauerte am Montag über zwei Stunden – erwähnt wurden jeweils nur der Name das Angeschuldigten, die Höhe der Strafe und die Straftatbestände, für die er verurteilt wurde. Die Begründungen werden, wie üblich in Italien, erst einige Monate später schriftlich nachgeliefert. Der Zufall wollte es, dass das dreiköpfige Gericht aus drei Frauen bestand – eine zusätzliche Demütigung für die fast ausschließlich männlichen Verurteilten und die archaische, patriarchalisch strukturierte 'Ndrangheta. Die zwischen 36 und 41 Jahre alten Richterinnen hatten über ihr Urteil seit dem 16. Oktober beraten – aus Sicherheitsgründen an einem geheimgehaltenen Ort und in völliger Isolation. Die Gerichtsverhandlungen hatten Anfang 2020 begonnen; in diesen knapp drei Jahren sind 900 Zeugen angehört worden.

Unter den Angeklagten befanden sich nicht nur gewöhnliche Mafiosi, sondern auch zahlreiche Politiker, Geschäftsleute, Anwälte, Justizangestellte, Dorfpolizisten und sogar ein Carabinieri-General, die laut der Anklage mit den Clans gemeine Sache gemacht hatten. "Was mich bei den Ermittlungen am meisten überraschte, war die Leichtigkeit, mit welcher die 'Ndrangheta die öffentliche Verwaltung, die Gerichte und damit den Staat als solchen unterwandern konnte", betonte Staatsanwalt Nicola Gratteri, der die Ermittlungen geleitet hatte. Die 'Ndrangheta ist die gefährlichste und internationalste italienische Mafiagruppe; ihr Jahresumsatz wird auf 50 Milliarden Euro geschätzt. Sie hat auf der ganzen Welt ihre Ableger, auch in Deutschland, Österreich und in der Schweiz.

Zwei Schlüsselfiguren

Die zwei Schlüsselfiguren des Verfahrens waren Luigi Mancuso und Giancarlo Pittelli. Mancuso – genannt "il Supremo" – ist der Boss des gleichnamigen Clans der Kleinstadt Limbadi. Er gilt als "Kokainkönig" Kalabriens und verfügt laut Gratteri über beste Verbindungen zu den kolumbianischen Drogenkartellen, zu deren Todesschwadronen und auch zur sizilianischen Cosa Nostra, die bei der Verteilung der Drogen hilft. Der Rechtsanwalt Pittelli wiederum ist ehemaliger Abgeordneter und Senator der Berlusconi-Partei Forza Italia und in Politik und Wirtschaft bestens vernetzt. Pittelli wurde am Montag zu elf Jahren Gefängnis verurteilt; Gratteri hatte 17 Jahre beantragt. Mancuso muss sich vor einem anderen Gericht im kalabrischen Hauptort Catanzaro verantworten.

Die kriminelle Symbiose von Mafia, Politik, Wirtschaft und Freimaurerei sei möglich geworden, weil man die 'Ndrangheta lange unterschätzt habe, betont Gratteri: "Jahrzehntelang hielt sich das Narrativ, dass es sich bei der 'Ndrangheta um eine Mafia aus einfachen Bauern, Hirten und vielleicht noch Entführern und Drogenhändlern handle. Das war bequem für die Politiker: Es wurde dabei unterschlagen, dass die 'Ndrangheta auch wählen geht und wählen lässt", sagt der Staatsanwalt. In Kalabrien sind die Stimmen der Mafia bei Wahlen oft entscheidend – und von den dank ihrer Unterstützung gewählten Politikern verlangen die Clans anschließend Gegenleistungen. Diese bestehen in der Regel in der Vergabe von öffentlichen Bauaufträgen sowie in der Besetzung von Stellen der öffentlichen Verwaltung mit Clanmitgliedern.

Der 65-jährige Gratteri, bis vor kurzem oberster Ankläger Kalabriens in Catanzaro, ist der prominenteste Anti-Mafia-Staatsanwalt Italiens und hat schon zahlreiche Bücher über die 'Ndrangheta veröffentlicht. In diesen warnt er seit Jahrzehnten vor den ausländischen Ablegern der kalabrischen Mafia. Gratteri steht seit Jahren zuoberst auf der Todesliste der Mafia und muss rund um die Uhr von einem Dutzend Personenschützern bewacht werden. Vor wenigen Wochen ist Gratteri von Catanzaro nach Neapel gewechselt, wo er nach dem Willen der Rechtsregierung von Giorgia Meloni innerhalb der dortigen Mafia, der Camorra, aufräumen soll. (Dominik Straub aus Rom, 20.11.2023)