Debatten, Streit und die Bildung von Koalitionen sind Teil einer lebhaften Demokratie. Die Insel Taiwan stellt dies gerade wieder unter Beweis. Vergangene Woche noch hieß es, die größte Oppositionspartei KMT könnte sich mit der kleineren TPP einigen, um der Regierungspartei DPP ernsthaft Konkurrenz zu machen. Knapp eine Woche später scheint der Deal geplatzt zu sein – was für Verärgerung in Peking sorgen dürfte.

In weniger als zwei Monaten finden in Taiwan Wahlen statt. Und diese wären nicht unbedingt eine Meldung wert, stünde Taiwan nicht im Zentrum eines geopolitischen Großkonflikts: Während Peking einen Sieg der Oppositionspartei KMT favorisiert, setzt man im Westen auf die Regierungspartei DPP.

Lai Ching-te (links) und seine Vizekandidatin Hsiao Bi-khim wollen die Regierungszeit der DPP fortsetzen. Doch die Opposition und Peking haben etwas dagegen.
AFP/SAM YEH

Acht Jahre lang hat die DPP unter ihrer progressiven Präsidentin Tsai Ing-wen regiert. In dieser Zeit ist die taiwanische Gesellschaft noch offener und liberaler geworden. Als erstes Land Ostasiens legalisierte Taiwan 2019 zum Beispiel die gleichgeschlechtliche Ehe. Dies geschah in einer Zeit, in der das chinesische Festland unter Xi Jinping zunehmend autoritärer wurde. Viele Taiwaner und Taiwanerinnen schockte zudem die brutale Niederschlagung der Demokratiebewegung in Hongkong 2019. Nicht zuletzt deswegen sind die Rufe nach mehr Unabhängigkeit in Taiwan lauter geworden.

Historische Zusammenhänge

Die aktuelle Situation lässt sich nicht ohne einen kurzen Ausflug in die Geschichte verstehen. Nach dem verlorenen Bürgerkrieg gegen Maos Kommunisten flüchtete sich Chiang Kai-shek auf die Insel Taiwan. Bis 1971 galt die Kuomintang, kurz KMT, sogar als offizielle Vertretung Gesamtchinas. Dies änderte sich, als die USA unter Präsident Richard Nixon die Volksrepublik anerkannten. Die KMT in Taiwan aber gab ihren Alleinvertretungsanspruch nie auf. In den folgenden Jahrzehnten liberalisierte sich Taiwan. 1996 fanden erstmals freie Wahlen statt. Während die DPP vor allem jüngere Wähler für sich begeistert und dementsprechend für mehr Unabhängigkeit vom Festland steht, hat die KMT mittlerweile die besseren Beziehungen zum Festland.

Als die DPP 2016 die Wahlen gewann, kappte Peking alle Gesprächskanäle zur Partei und verbot später auch chinesischen Touristen, die Insel zu besuchen. "Taiwan ist ein Patient mit hohem Fieber. Wir wollen dieses Fieber senken", sagt Alexander Huang, außenpolitischer Sprecher der KMT. "Dafür braucht es Dialog, und die KMT ist die einzige Partei, die Telefonleitungen nach Washington und Peking hat."

Bei der Regierungspartei setzt man dagegen auf Abschreckung und Militärhilfe aus dem Westen: "Abschreckung ist derzeit das Wichtigste", sagt Vincent Chao, Sprecher der DPP. "Wir müssen den Preis, den China für eine Invasion zahlen muss, so hoch wie möglich halten."

"Taiwaner" oder "Chinese"?

Immer mehr Menschen in Taiwan aber empfinden Peking als Bedrohung und fühlen sich nur noch sekundär als "Chinesinnen" oder "Chinesen". "Wir teilen Schrift, Sprache und Teile unserer Kultur", sagt Eric Wu, ein 36-jähriger Werbetexter aus Taipeh. "Aber in erster Linie fühle ich mich als Taiwaner." Dementsprechend sehen auch die Wahlprognosen aus: Nahezu alle Umfragen sehen die Regierungspartei deutlich in Führung. Zwischen 30 und 40 Prozent der Taiwaner wollen eine Fortführung der Politik. Die KMT folgt an zweiter Stelle mit knapp 20 Prozent, dicht gefolgt von der dritten Partei TPP. An vierter Stelle folgt die Partei des Foxconn-Chefs Terry Gou, dessen Chancen aber nie hoch waren. Ein Zusammenschluss aus KMT und TPP aber könnte der Regierungspartei den Sieg tatsächlich streitig machen. Bisher aber konnten sich die beiden Parteien nicht auf einen gemeinsamen Kandidaten einigen. Die Allianz droht zu scheitern. (Philipp Mattheis, 21.11.2023)