Als die Air Force One am 22. November 1963 um 11.40 Uhr Ortszeit in Dallas landet, hat John F. Kennedy nur noch wenige Minuten zu leben. Der US-Präsident absolviert in der texanischen Metropole einen Routinebesuch, wärmt sich und seine Anhängerschaft für den Wahlkampf des kommenden Jahres auf. Kontakt mit der Bevölkerung ist angesagt, daher lassen sich das Präsidentenehepaar John Fitzgerald und Jacqueline Kennedy in der offenen Limousine durch die Stadt chauffieren. Wiederholt hält der von der Motorradpolizei begleitete Wagenkonvoi an. Kennedy begrüßt vom dunkelblauen Lincoln aus die Menschen, schüttelt Hände, fährt weiter, vier Bodyguards stehen auf den seitlichen Trittbrettern und suchen die Gegend nach Gefahren ab.

Der Moment des Attentats: John F. Kennedy sitzt mit seiner Frau im offenen Lincoln
Der Moment des Attentats: John F. Kennedy sitzt mit seiner Frau im offenen Lincoln (zweites Auto), der von Motorradpolizisten und vier Bodyguards gesichert wird. Dennoch wird er innerhalb der nächsten Sekunden von mehreren Kugeln tödlich getroffen.
AP/James W. (Ike) Altgens

Dann biegt die Limousine scharf in die Elm Street ein. Bei einem sechsstöckigen Ziegelbau, dem Texas School Book Depository, fallen um 12.30 Uhr plötzlich jene Schüsse, die John F. Kennedys Leben beenden werden. Spätestens ab diesem Zeitpunkt haben die Gewissheiten ein Ende. Oder besser gesagt: Fortan wird es die eine, die offizielle Geschichtsschreibung geben – und dann die andere, in der auch nach 60 Jahren das Kapitel "John F. Kennedy" nicht beendet werden kann oder will.

Todeszeitpunkt 13 Uhr

Waren es drei Schüsse? Vier? Oder sogar 16? Der blutüberstömte Präsident und der ebenfalls schwer verletzte Gouverneur von Texas, John Connally, werden mit hoher Geschwindigkeit in das knapp sechs Kilometer entfernt liegende Parkland-Hospital gefahren. Um 12.36 Uhr trifft der Wagen dort ein, der Kampf der Ärzte um Kennedys Leben ist aber schier aussichtslos: Bereits um 13 Uhr wird "JFK" offiziell für tot erklärt. Connally überlebt und wird erst 30 Jahre später an den Spätfolgen des Attentats versterben.

Eine Stunde später, um 14 Uhr, wird Lee Harvey Oswald, der in dem Schulbuchdepot angestellt ist, von wo aus die Schüsse wahrgenommen worden waren, in einem Kino entdeckt und verhaftet. Erst später wird bekanntgegeben, dass Oswald kurz zuvor einen Polizisten erschossen hatte, der ihn schon um 13.15 Uhr hatte anhalten wollen. Oswald selbst findet nur zwei Tage später, am 24. November, einen gewaltsamen Tod: Jack Ruby, Besitzer einer Bar mit mutmaßlichen Kontakten zur amerikanischen Mafia, betritt die Polizeistation, in der der Verdächtige untergebracht ist, zückt eine Pistole und erschießt ihn. Ruby wird festgenommen und stirbt vier Jahre später im Gefängnis – an Krebs.

Die offiziellen Berichte der US-Ermittlungsbehörden werden nie von einem anderen Täter als von Oswald sprechen. Auch wenn es in Bezug auf Planung, Durchführung und technische Machbarkeit des Attentats auf den US-Präsidenten immer wieder Zweifel und offene Fragen gab und gibt, die bis heute nicht restlos geklärt sind.

Was war das Mordmotiv?

Was wissen wir – offiziell? Dass es sich bei Oswald wohl um einen Einzeltäter handelte. Zwar behauptete der Mann unmittelbar nach seiner Verhaftung, "niemanden getötet" zu haben. Das gefundene Beweismaterial sprach jedoch Bände – und gegen ihn. Auf der Tatwaffe, die im Texas School Book Depository gefunden wurde, fand die Polizei Oswalds Fingerabdrücke. Die Durchführbarkeit des Attentats galt als gesichert, schließlich hatte Oswald als Mitarbeiter des Depots problemlos Zutritt zum Tatort, wo auch Patronenhülsen gefunden wurden. Auch der Mord an den Streifenpolizisten J. D. Tippit ließ sich nachweisen.

Was fehlte aber? Ein nachvollziehbares Motiv. Und die Suche nach diesem wurde zur Nährlösung zahlloser Verschwörungstheorien. Nicht nur in späteren Jahren und Jahrzehnten, sondern schon damals, Ende November 1963. Der noch am Tag des Todes Kennedys als neuer US-Präsident angelobte Lyndon B. Johnson sah sich gezwungen, innerhalb weniger Tage eine Untersuchungskommission des US-Kongresses einzuberufen. Den Vorsitz übernahm der oberste US-Bundesrichter Earl Warren, der auch zum Namensgeber des resultierenden Untersuchungsberichts werden würde: Nach der Befragung von mehr als 500 Zeugen und der Auswertung von 20.000 Seiten FBI-Vernehmungsprotokollen war die Schlussfolgerung der Kommission eindeutig: Es war Oswald – und niemand sonst –, der die Schüsse auf Kennedy (und indirekt auf Connally) abgab. Die Theorie der Einzeltäterschaft sei erwiesen. Oswald sei zudem kein Subjekt einer politischen Verschwörung gewesen, ebenso wenig sei dies bei Ruby der Fall gewesen. Präsident Johnson nahm den Bericht ab und stimmte diesem somit formell zu.

Der Lincoln des Präsidenten unmittelbar nach dem Attentat.
Ein Personenschützer stößt Jackie Kennedy, die über den Kofferraumdeckel nach hinten kriechen wollte, wieder in den Wagen hinein, der mit dem tödlich getroffenen Präsidenten ins Parkland-Hospital rast.
AP/Justin Newman

Die APA zitiert den Historiker Günter Bischof mit den Worten, dass "in der amerikanischen Geschichte konspiratives Denken ein Grundzug in der Bevölkerung ist". Wenn dem so ist, dann überrascht es auch nicht, dass auch nach 60 Jahren der "Fall JFK" für viele Menschen noch nicht abgeschlossen ist. Die Ansätze und Pfade sind dabei ebenso mannigfach wie verschlungen, faszinierend – oder ganz einfach nur fantastisch im besten Wortsinn: Ein Komplott der UdSSR oder gar Kubas, um sich für die Demütigung in der Kubakrise zu revanchieren, wurde und wird ebenso ventiliert wie ein Mordauftrag der Mafia, weil Clan-Oberhaupt Joseph P. Kennedy (1888–1969) schon während der Prohibition enge Beziehungen zum organisierten Verbrechen gehabt haben soll. Diese Verbundenheit habe auch eine Rolle gespielt, als JFK 1960 im Wahlkampf auf Stimmenfang ging.

Doch dann, erst einmal im Amt, habe sich Justizminister Robert F. Kennedy (der jüngere – und wie viele meinen: brillantere – Bruder des Präsidenten) sich und JFK aus der Umklammerung der Mafia befreien wollen, was diese nicht gutheißen konnte – so zumindest dieses Narrativ.

Der "Badge Man"

Für Spezialisten ist auch die Theorie des "Badge Man" – jenes mutmaßlichen zweiten Schützen in unmittelbarer Nähe des vorbeifahrenden Konvois, dessen Anwesenheit allerdings nie bestätigt werden konnte, ebenso wenig wie dessen Identität.

Und, und, und – aber wie so oft bei Verschwörungsnarrativen gibt es immer wieder konkrete, nachvollziehbare Anhaltspunkte, um diese dann doch noch weiterzuspinnen, und sei es bloß um der Gedankenspielerei willen. So bleiben selbst die festgestellten Fakten des Warren-Reports in manchen Punkten er- und aufklärungsbedürftig. Wie viele Schüsse wurden tatsächlich abgegeben? War die Entfernung, zumal auf ein bewegliches Ziel, selbst für einen Scharfschützen nicht viel zu groß? Wie konnte Oswald drei – laut Warren-Report: vier – Schüsse innerhalb von 8,3 Sekunden abgeben, wenn das alte Gewehr eine solch rasche Schussabfolge schon rein technisch gar nicht zulässt?

Übrig bleibt von John F. Kennedy letztlich ein Mythos. Wohl genau aus dem Grund, weil er als junger, erfolgreicher, krisensicherer US-Präsident schon im Alter von 46 Jahren den Tod fand. Der Umstand, dass auch sein jüngerer Bruder "Bobby" am 6. Juni 1968 ermordet wurde, als er im Alter von 43 Jahren US-Präsident werden wollte, trug indirekt zur Ausformung einer Legende um den ganzen Kennedy-Clan bei. (Gianluca Wallisch, red, 22.11.2023)