Margit Schratzenstaller, in einem Zug sitzend
"Wir haben noch relativ viele Gleichstellungsdefizite. Da hat sich wenig getan", sagt Ökonomin Margit Schratzenstaller.
Regine Hendrich

Neun Uhr Früh in einer Wienerwald-Gemeinde. Margit Schratzenstaller besteigt mit Rad und Rucksack die Schnellbahn nach Wien. Ein Gespräch, das in einem Zug beginnt und in einem Café endet. Die Volkswirtin ist derzeit im Dauereinsatz, rund um das gerade beschlossene Budget und den Finanzausgleich. Inhalte und Sinnhaftigkeit von beidem erklärt sie via Medien laufend der Öffentlichkeit.

STANDARD: Sie sind begeisterte Bahnfahrerin, am liebsten sind Ihnen Nachtzüge. Sie fliegen so gut wie nie?

Schratzenstaller: Nachtzüge nehme ich am liebsten, weil ich da entspannt reisen und arbeiten kann. Ich fliege nur, wenn es unbedingt notwendig ist, und das ist sehr selten. Flughäfen, das ganze Drum­herum vor und nach dem Fliegen, das ist einfach tote Zeit, Fliegen ist für mich die stressigste Art des Reisens.

STANDARD: Mit der Deutschen Bahn zu fahren ist noch stressiger …

Schratzenstaller: Ja, die Deutsche Bahn hat es tatsächlich geschafft, in 20 Jahren von einem Vorzeigebahnunternehmen Europas zu einem unberechenbaren und unzuverlässigen Betrieb zu werden, wenngleich mit sehr freundlichem Personal.

STANDARD: Wie erklärt das die aus Deutschland stammende Ökonomin?

Schratzenstaller: Man hat nicht früh genug erkannt, wie zentral die Verkehrswende und wie wichtig da eine gut funktionierende Bahngesellschaft ist. Man hat sich zu sehr darauf konzentriert, die Bahn fit für einen Börsengang zu machen, der dann gar nicht kam, und hatte zu wenig Fokus darauf, die Kapazitäten auszubauen. So wurde die Deutsche Bahn zu einer der unzuverlässigsten Bahnen Europas. Hoffentlich schaffen sie bald den Turnaround.

STANDARD: Sie fliegen kaum, haben kein Auto, fahren viel mit dem Rad: Sind Sie also eine Grüne?

Schratzenstaller: Nein, denn das ist ein politisches Etikett. Ich bin eine Wissenschafterin, die sich evidenzbasiert auf die Frage fokussiert, wie man die öffentlichen Finanzen so umgestalten kann, dass sie besser zu einer sozial-ökologischen Transformation beitragen, als sie es derzeit tun.

STANDARD: Als Wifo-Expertin beschäftigen Sie sich schon lange mit Ökologisierung. Was denkt man da, wenn eine schwarz-grüne Regierung nicht alle Umweltgesetze zusammenbringt, die sie sich vorgenommen hat?

Schratzenstaller: Es ist ja einiges weitergegangen in den vergangenen Jahren, das darf man nicht klein­reden. CO2-Bepreisung, Förderungen für grüne Transformation: Der Trend geht in die richtige Richtung. Aber die Koalitionspartner haben halt unterschiedliche Schwerpunkte, und es ist daher alles eine Frage des Ausverhandelns.

STANDARD: Sie kommen aus einem 50-Seelen-Dorf in Niederbayern, beschäftigen sich tagaus, tagein mit Zahlen und Statistiken. Haben Sie Zahlen schon immer interessiert?

Schratzenstaller: Eigentlich nicht, ich wollte Schriftstellerin werden. Angefangen haben meine Ambitionen damit, dass ich ein Theaterstück schreiben wollte, aber damit bin ich nicht weit gekommen. Später wollte ich dann Journalistin werden.

STANDARD: Ihre Eltern wollten, dass Sie etwas Handfestes lernen: Wurden Sie deswegen Industriekauffrau?

Schratzenstaller: Ich bin Industriekaufmann, so hieß das damals in der Industrie- und Handelskammer Passau. Ja, daheim wurde viel Wert auf solide Ausbildung gelegt. Danach habe ich Betriebswirtschaft studiert, auch was Handfestes.

STANDARD: Ihren Master haben Sie in den USA, in Milwaukee, gemacht. Dort leben viele Nachfahren von Deutschen, die nach der Revolution 1848 auswanderten …

Schratzenstaller: Ja, aber ich habe dort studiert, weil meine Uni in Gießen eine Partnerschaft mit der in Milwaukee hatte und ich ein Stipendium bekam. Noch zu den Deutschen dort: Meine Kollegen und ich, wir haben sehr von dem guten Brot in Milwaukee profitiert – dem aus der German Bakery.

Flamingos stehen im Lake Michigan
In Milwaukee, das am Westufer des Lake Michigan (hier im Bild) liegt, hat Schratzenstaller ihren Master gemacht.
Imago/Mike De Sisti //USA TODAY Network

STANDARD: Und waren Sie oft im Lake Michigan schwimmen? Sie schwimmen ja so gern.

Schratzenstaller: Nie. Aber ich schwimme wirklich sehr gern, weil ich da, auch dank meines technologischen Unverständnisses, von nichts abgelenkt werde. Schwimmen hat etwas unheimlich Kontemplatives.

STANDARD: Pythagoras sagte, die Zahl sei das Wesen aller Dinge. Sehen Sie das auch so?

Schratzenstaller: Nein. Es kommt sehr stark auf den Kontext rund um die Zahlen an.

STANDARD: Warum forschen Sie?

Schratzenstaller: Warum forsche ich? Weil Forschung ein guter Weg ist, wenn man etwas verändern will. Mir geht es nicht nur darum, Zusammenhänge aufzuzeigen oder Evidenz zu generieren, sondern ich will damit zur Lösung der großen Fragen beitragen, mit denen wir konfrontiert sind – auch wenn das ein bissl hochtrabend klingt.

STANDARD: Und haben Sie schon etwas gelöst?

Schratzenstaller: Es wäre vermessen, so etwas zu behaupten. Aber es ist schön zu sehen, dass ich an Themen arbeite, bei denen etwas weitergegangen ist. Da wird zu Beginn oft gesagt: Das ist politisch nie umzusetzen, und dann gelingt es doch; die CO2-Bepreisung ist so ein Fall. Und ich arbeite ja auch zum EU-Budget, und da haben wir eine Studie zum CO2-Grenzausgleichsmechanismus (ein CO2-Preis auf die Einfuhr bestimmter außerhalb der EU hergestellter Waren auf Grundlage der damit verbundenen Kohlenstoffemissionen, Anm.) geschrieben, der nachhaltig Einnahmen fürs EU-Budget schaffen würde. Die EU-Kommission hat damals gemeint, dass das eine völlig unrealistische Idee ist. Tatsächlich ist er aber bereits eingeführt worden in der EU. Man kann also seinen Beitrag leisten.

STANDARD: Sie beschäftigen sich mit Gender-Budgeting. Fällt Ihnen so ein Beitrag auch beim Frauenthema ein?

Schratzenstaller: In dem Sinn, dass ich gemeinsam mit vielen anderen dazu beitrage, das Bewusstsein für solche Fragestellungen zu schärfen. Als ich nach Österreich kam, wurde über Gender-Budgeting erst diskutiert, dann gab es eine Allparteieneinigung zu seiner Einführung. Mein erstes öffentliches Hearing im Parlament als Wirtschaftsforscherin galt diesem Thema.

STANDARD: Würden Sie sich als Feministin bezeichnen?

Schratzenstaller: Schwierige Frage. Eher würde ich sagen, dass mir Gleichstellung von Frauen und Männern ein besonders großes Anliegen ist – auch als Ökonomin. Wir haben in Österreich immer noch relativ viele Gleichstellungsdefizite, da hat sich wenig getan. Im EU-Vergleich haben wir immer noch eine ausgeprägte Ungleichverteilung der bezahlten Erwerbs- und unbezahlten Haus- und Sorgearbeit, da verändert sich nicht viel. Der demografische Wandel erfordert, dass wir vor allem ältere Arbeitnehmer, Leute mit Mi­grationshintergrund und vor allem Mütter stärker in den Arbeitsmarkt integrieren müssen. Mütter sind eine quantitativ bedeutende Gruppe – aber wir haben immer noch nicht die Rahmenbedingungen geschaffen, damit sie wieder arbeiten gehen können. Es scheitert immer noch an der Kinderbetreuung, und auch dort mangelt es an Personal.

Eine Pflegerin wäscht die Hand einer Patientin
Mütter, Beschäftigte in Kindergärten, Schulen oder Pflege zählen in den Augen Schratzenstallers zur Kategorie Alltagsheldinnen.
Imago/Martin Wagner

STANDARD: Sie bekamen 2009 den Wiener Frauenpreis; heute gibt es da auch die Kategorie "Alltagsheldin". Wer wäre für Sie eine solche Heldin?

Schratzenstaller: Die Mütter sind Österreichs Alltagsheldinnen. Und die Beschäftigten in Kindergärten, Schulen oder Pflege, die uns alle in extrem wichtigen Bereichen ent­lasten und deren zentrale Rolle wir viel zu wenig schätzen.

STANDARD: Sie beraten Regierung und Politik, mahnen zu vernünftigen Budgets. Politiker aber wollen gewählt werden, geben daher gern viel aus. Wie halten Sie den Zielkonflikt aus?

Schratzenstaller: Das ist nicht immer leicht auszuhalten. Man muss sich an den Erfolgen freuen, und ich gehe ja zum Ausgleich schwimmen oder mir dem Hund spazieren. Die Politik hat eigene Gesetzmäßig­keiten, eben die Wiederwahlorientierung und Kurzfristigkeit. Des­wegen müssen wir Wirtschaftsforscherinnen uns viel mehr um die Information der Öffentlichkeit bemühen: Denn wenn die Druck macht, dann reagiert auch die Politik.

STANDARD: Gibt es eigentlich irgendwo auf der Welt einen Finanzminister oder eine Finanzministerin, der oder die Sie beeindruckt?

Schratzenstaller: Die Frage habe ich mir noch nie gestellt. Spontan fällt mir niemand ein.

STANDARD: Politiker sind vereinnahmend. Wie grenzen Sie sich ab?

Schratzenstaller: Indem ich eine professionelle Distanz wahre und mich auf meine evidenzbasierten Positionen zurückziehe. Ich glaube auch, dass man als beratender Forscher nicht unbedingt eine Parteimitgliedschaft haben sollte.

Martin Kocher steht neben Werner Kogler und Karl Nehammer
Ein Wechsel in die Politik, wie ihn Ex-IHS-Chef Martin Kocher (links) vollzogen hat, reizt die Ökonomin nicht.
APA/Tobias Steinmaurer

STANDARD: Sind Sie selbst je in Versuchung geraten, in die Politik zu wechseln? Der frühere Chef des Instituts für Höhere Studien (IHS), Martin Kocher, wurde Arbeitsminister.

Schratzenstaller: Niemals. Die Politik reizt mich überhaupt nicht. Da geht so viel Zeit durch ineffiziente Debatten verloren, und mich würde auch das Denken in Ressorts stören, das kritisiere ich auch als Öko­nomin. Denn die großen Herausforderungen wie den Klimawandel werden wir sicher nicht mit Silo­denken bewältigen. Der Klimawandel ist da. Das werden alle Parteien, alle politischen und zivilgesellschaftlichen Akteure begreifen müssen.

STANDARD: Welche Politikertypen enervieren Sie besonders?

Schratzenstaller: Mit Populisten komme ich ganz schwer zurecht, aber die sind im Aufwind. Das halte ich für sehr gefährlich – auch für die evidenzbasierte Politik. Vom Po­litikertypus, der auf bestehenden Strukturen beharrt und keine Visionen hat, halte ich auch wenig.

STANDARD: Es regt Sie aber kaum was auf. Sie sind sehr pragmatisch?

Schratzenstaller: Ja. Wenn's ein Problem gibt, schauen wir, was Wissenschaft und empirische Evidenz dazu sagen, und dann sucht man nach Lösungen. Ich mag keine ideologischen Diskussionen, die bringen uns nicht weiter.

STANDARD: Als Forscherin sind Sie sehr strukturiert, Ihr Schreibtisch ist bekannt für seine, sagen wir, Über­ladung. Sie verlieren auch viel. Wie passt das zusammen?

Schratzenstaller: Ich finde immer alles, was ich brauche. Glaubt mir zwar keiner, ist aber so. Was stimmt: Ich bin die inoffizielle Weltmeisterin des Verlierens. Aber ich bin gut im Improvisieren und habe gelernt, ohne Dinge auszukommen, von denen ich dachte, sie seien unersetzbar. Nichts ist unersetzbar. Leider verliere ich auch immer wieder meinen Kalender …

STANDARD: … für den Sie fast berühmt sind, weil er so groß und vollgeschrieben ist.

Schratzenstaller: Genau. Was aber noch schlimmer ist: Vor zwei Jahren habe ich meinen deutschen Reisepass verloren. Bis ich einen neuen bekommen habe, hat es ein Dreivierteljahr gedauert.

STANDARD: Sie haben 2018 mit einem Kollegen gemeinsam den Kurt-Rothschild-Preis bekommen. Rothschild war ein Wiener Ökonom, der bis ins hohe Alter am Wifo tätig war

Schratzenstaller: Er war eine besonders tolle Persönlichkeit.

Ein Porträtfoto des Ökonomen Kurt Rothschild, der 2010 verstorben ist.
Der bekannte Wiener Ökonom Kurt Rothschild bei einem Interview im Jahr 2009; er verstarb 2010.
Regine Hendrich

STANDARD: Und Rothschild hat noch mit 95 Jahren ein Buch geschrieben: "Wie die Wirtschaft die Welt bewegt". Wie bewegt die Wirtschaft die Welt?

Schratzenstaller: Wie lange haben wir Zeit? Die Wirtschaft ist natürlich enorm wichtig, bringt Einkommen, Arbeitsplätze, Innovation und Fortschritt. Aber wir müssen den Kontext wieder mehr beachten, den die Wirtschaft braucht, um zu funktionieren, und da stehen Ökologie, Arbeitsbedingungen und Verteilung ganz oben. Auch in reichen Ländern wie Österreich.

STANDARD: Eine Frage noch aus dem "Fragebogen" von Max Frisch: "Was ertragen Sie nur mit Humor?"

Schratzenstaller: Bürokratischen Aufwand.

STANDARD: Letzte Frage: Worum geht's im Leben?

Schratzenstaller: Darum, dass wir alle von dem Platz aus, an dem wir sind, beitragen, die Welt ein bissl lebenswerter zu machen – und vor allem darum, dass wir sie in einem einigermaßen guten Zustand an die nächste Generation übergeben. Ich bin da zweckoptimistisch, denn sonst müsste man aufhören. (Renate Graber, 27.11.2023)