Kinderarbeit in den USA 1911
Kinderarbeit in den USA sieht heute anders aus als im Jahr 1911 auf diesem Archivbild. Sie feiert dennoch ein trauriges Comeback.
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Er liebte es, an seinem Auto herumzuschrauben, ging ins Fitnessstudio und hörte gerne Musik. Duvan Tomas Perez war ein ganz normaler Jugendlicher in Hattiesburg im Süden des US-Bundesstaats Mississippi. Seine Lehrer beschrieben den Migrantensohn aus Guatemala als "freundlich und fleißig". Doch nach Schulschluss am Nachmittag hatte der 16-Jährige noch einen weiteren Job: Er arbeitete in der örtlichen Geflügelfabrik.

Am 14. Juli kam der Neuntklässler, der auf Fotos tiefschwarze Haare, wache Augen und ein Piercing unter der Lippe hat, nicht nach Hause. Gegen 19.40 Uhr wurde in der Fabrik ein Alarm ausgelöst: Duvan Tomas Perez war in das Förderband einer Maschine geraten und eingeklemmt. Verzweifelt schrie der Jugendliche um Hilfe. Als die Rettungskräfte eintrafen, konnten sie nur noch seinen Tod feststellen.

Die Firma gab sich betroffen. Angeblich hatte sie keine Ahnung, dass ein Subunternehmen Minderjährige eingestellt hatte, deren Beschäftigung in gefährlichen Tätigkeiten nach US-Bundesrecht ausdrücklich verboten ist. "Unser Personal ist unser wichtigstes Kapital, und Sicherheit genießt bei uns höchste Priorität", verkündete der Firmenmanager im zynischen PR-Sprech.

Kinder hinter der Holzfassade

Das Schicksal von Perez ist kein Einzelfall. Kaum zwei Wochen zuvor war in einem Sägewerk in Wisconsin ein ebenfalls 16-Jähriger ums Leben gekommen. Bei der Inspektion der Lagerhalle eines Onlineversenders in Kentucky stießen staatliche Ermittler im Oktober auf einen Elf- und einen 13-Jährigen, die Gabelstapler fuhren. Im Oktober statteten Gesundheitsbeamte einem Geflügelproduzenten in Ohio einen Besuch ab, der sich mit der abgelegenen Lage seiner Betriebsstätte rühmt: "Frische Luft, eine hügelige Landschaft und das entspannte Gefühl eines einfacheren Lebens – da kommen unsere Hendln her." Hinter der idyllischen Holzfassade des Firmengebäudes schufteten illegal zwei Dutzend Minderjährige.

Kinderarbeit erlebt in den USA gerade einen besorgniserregenden Boom. Von 2015 bis 2022 haben sich die von den Behörden festgestellten Gesetzesverstöße vervierfacht. In diesem Jahr wurden bei Kontrollen 5792 illegal beschäftigte Minderjährige gefunden – eine nochmalige Steigerung um 50 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Und das sind nur die offiziellen Zahlen. Die Dunkelziffer dürfte erheblich sein.

Dabei ist die Gesetzeslage ohnehin schon relativ liberal. Der Fair Labor Standards Act von 1938, der auf Bundesebene das Mindestalter für "belastende Tätigkeiten" auf 16 Jahre für einfache Berufe sowie 18 Jahre für gefährliche Gewerke festlegt, sieht Ausnahmen vor allem für die Landwirtschaft vor. In einigen Bundesstaaten gelten zudem eigene, großzügigere Regelungen. Doch das reicht den Befürwortern einer radikalen Öffnung des Arbeitsmarkts für Jugendliche nicht: Während gerade die illegale Beschäftigung dramatisch zunimmt, machen gleichzeitig überall im Land Republikaner massiven Druck, die rechtlichen Beschränkungen noch weiter zu lockern. In 14 Staaten haben Konservative in den vergangenen zwei Jahren entsprechende Vorstöße unternommen. Acht Gesetze wurden von den Parlamenten beschlossen.

50 Stunden für 16-Jährige erlaubt

So dürfen in Wisconsin und New Hampshire seit Neuestem schon 14-Jährige in Gaststätten alkoholische Getränke servieren, obwohl deren Erwerb und Konsum in den USA sehr restriktiv erst ab dem 21. Geburtstag erlaubt ist. In New Jersey wurde die maximale Wochenarbeitszeit für 16-Jährige auf 50 Stunden erhöht. In Ohio hat der Senat ein Paragrafenwerk beschlossen, das es 14- und 15-Jährigen erlaubt, bis 21 Uhr (statt bisher 19 Uhr) zu jobben.

Am extremsten sind die Lockerungen im landwirtschaftlich geprägten Iowa. Dort unterzeichnete die republikanische Gouverneurin Kim Reynolds im Juni stolz ein Gesetz, das die Beschäftigung von 14-Jährigen in Kühlhäusern und Wäschereien, von 15-Jährigen an Fließbändern sowie von 16-Jährigen im Bau- und Dachdeckergewerbe erlaubt. Selbst während des Schuljahrs dürfen dort nun 14-Jährige sechs Stunden pro Tag bis 21 Uhr arbeiten. "In Iowa schätzen wir die Würde der Arbeit und sind stolz auf eine harte Arbeitsethik", pries Reynolds ihren Tabubruch an.

Die republikanische Gouverneurin Kim Reynolds
Stolz auf ihr Gesetz, das 14-Jährigen sechs Stunden Arbeit pro Tag neben der Schule erlaubt: die republikanische Gouverneurin Kim Reynolds.
AP

Ein ganzes Bündel unguter Faktoren befeuert den Vormarsch der Kinderarbeit. Da ist zum einen ein weitgehend leergefegter Jobmarkt, der Arbeitgeber mit größtem Druck nach Arbeitskräften suchen lässt. Gleichzeitig kommen immer mehr unbegleitete Jugendliche aus Lateinamerika auf der Flucht vor Armut und Gewalt über die mexikanische Grenze ins Land. Schließlich liefern die Trump-Republikaner mit ihrem Hass auf den Staat und dessen Regulierung den ideologischen Überbau für die Schleifung von Schutzrechten.

Kinder, die nachts Bretter sägen

Einer ihrer Stichwortgeber ist Tarren Bragdon, der einst für die Republikaner im Landesparlament von Maine saß und nun von Florida aus die ultrarechte Lobbygruppe Foundation for Government Accountability leitet. Gerne verweist der 48-Jährige auf seine eigene Familie: Sein 17-jähriger Sohn verdiene sich durchs Kellnern etwas dazu, und die 16-jährige Tochter habe gerade eine eigene Lippenstift-Kollektion gestartet: "Ich bin stolz darauf, dass sich beide etwas abfordern und trotzdem gute Noten heimbringen."

In einem Gastbeitrag für das konservative "Wall Street Journal" empörte sich Bragdon neulich über den Widerstand linker Politiker und Medien gegen "Reformen des gesunden Menschenverstands": Eltern ließen ihre Teenager selbstverständlich am Abend oder am Wochenende Sport treiben. "Warum können sie ihre Kinder nicht zu diesen Zeiten im Restaurant Tische abräumen oder Lebensmittel ausliefern lassen?" Schließlich, so der Lobbyist, sei erwiesen, dass Minderjährige, die arbeiten, später bessere Jobs bekämen, weniger Verbrechen begingen und seltener Drogen nehmen würden.

Ein lockerer Freizeitjob als nützliche Vorbereitung auf das Leben – so stellen es die Kinderarbeit-Propagandisten gerne dar. Doch die Realität sieht anders aus. Das wurde vielen Amerikanern durch einen schockierenden Bericht der "New York Times" im Februar dieses Jahres deutlich. Zwei Investigativjournalistinnen des renommierten Blatts waren wochenlang durch das Land gereist und hatten mit mehr als 100 jugendlichen Migranten sowie ähnlich vielen Rechtsanwälten, Sozialarbeitern und Behördenmitarbeitern gesprochen. Sie stießen auf zwölfjährige Dachdecker in Florida und Tennessee, minderjährige Arbeiter in Schlachthöfen von Delaware, Mississippi und North Carolina sowie Kinder, die nachts in South Dakota Holzbretter sägen mussten. Diese Jugendlichen, urteilte die Zeitung, seien "Teil einer neuen Ausbeutungswirtschaft".

Mehr Kontrollen geplant

Die erschütternde Reportage verfehlte ihre Wirkung nicht. "Berichte über Kinder, die von der Schule abgehen, vor Erschöpfung zusammenbrechen und Körperteile bei der Arbeit mit Maschinen verlieren, erwartet man in den Romanen von Charles Dickens oder Upton Sinclair, aber nicht im täglichen Leben der Vereinigten Staaten von Amerika", empörte sich Hillary Scholten, eine Abgeordnete der Demokraten, im Washingtoner Repräsentantenhaus. Karine Jean-Pierre, die Sprecherin von Präsident Biden, nannte die Zustände "herzzerreißend" und "völlig inakzeptabel".

Inzwischen hat Scholten einen Gesetzesentwurf ins Repräsentantenhaus eingebracht, der die geltenden lächerlich niedrigen Strafen bei Verstößen auf 130.000 Dollar fast verzehnfachen soll. Im Senat wird ein ähnlicher Vorstoß debattiert. Die Biden-Regierung hat derweil 100 Millionen Dollar zur Intensivierung der viel zu seltenen Kontrollen in Aussicht gestellt.

Doch ist fraglich, ob dadurch die Missstände wirklich behoben werden. Nicht nur fehlt Scholten für ihre Initiative bislang im Parlament die Mehrheit, und Bidens Finanzspritze ist Teil des 106 Milliarden Dollar schweren Sicherheitspakets, das von den Republikanern blockiert wird. Vor allem hängt die zunehmende Beschäftigung von Jugendlichen in schlecht bezahlten und gefährlichen Jobs mit einem anderen, noch viel größeren ungelösten Problem der USA zusammen: der massiven Migration aus Lateinamerika.

Von "Aufsichtspersonen" zur Arbeit gezwungen

Seit einigen Jahren begeben sich immer mehr Jugendliche aus ihrer von Armut und Gewalt geprägten Heimat auf die gefährliche Reise nach Norden. Alleine im vergangenen Jahr wurden 130.000 unbegleitete Minderjährige an der Grenze zu Mexiko aufgegriffen. Bis zum Abschluss ihrer Asylverfahren können Jahre vergehen. So lange lässt die Biden-Regierung sie aus humanitären Gründen zu erwachsenen "Betreuern" im Land weiterreisen. Das können Eltern, Verwandte, Bekannte oder auch fremde Pflegeeltern sein. Oft fühlen sich die Kinder verpflichtet, ihren Angehörigen in der Heimat Geld zu schicken. Bisweilen werden sie aber auch von den "Aufsichtspersonen" zur Arbeit genötigt. Nach den Recherchen der "New York Times" ist die behördliche Überprüfung der Betreuer unzureichend, und selbst nach der Meldung von Missständen passiert oft nichts.

Vor diesem Hintergrund könnte die Lockerung der Arbeitsschutzgesetze in vielen Bundesstaaten wie ein Turbo für die Ausbeutung der Minderjährigen wirken. Kinderschutzaktivisten wie Reid Maki von der Verbraucherorganisation NCL sind deshalb alarmiert. "Diese Kinder haben ihre Familien zurückgelassen. Sie brauchen verzweifelt Geld. Sie würden alles machen", warnt der Ex-Journalist. Amerika dürfe seinen Arbeitskräftemangel nicht auf dem Rücken dieser Schwächsten bewältigen, insistiert Maki: "Das ist etwas, was wir als Gesellschaft einfach nicht zulassen dürfen." Der Appell klingt eindringlich, aber irgendwie auch hilflos. (Karl Doemens aus Washington, 26.11.2023)