Nahostkrieg Solidarität Antisemitismus Islamophobie
Jürgen Habermas (94), Nestor nicht nur der bundesdeutschen Philosophie, pflegt auch im Nahostkonflikt universalistisch zu argumentieren. Das geht dennoch vielen nicht weit genug.
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Philosoph Jürgen Habermas (94), seit jeher Befürworter einer vernünftigen, im Tone der Mäßigung geführten Verständigung, stößt dieser Tage auf ungewöhnlich scharfen Widerspruch. Dabei sind es überwiegend Geister, die sich auf ihn und seine Lehre berufen, die Habermas' Einlassungen zum Nahostkrieg nicht gelten lassen. "Grundsätze der Solidarität. Eine Stellungnahme", so lautet der Titel einer Stellungnahme, die Habermas gemeinsam mit Nicole Deitelhoff, Rainer Frost und Klaus Günther verfasst hatte. Darin wird die "recht verstandene Solidarität mit Israel" als grundlegend erachtet. Der Gaza-Krieg sei "prinzipiell gerechtfertigt".

Stoßrichtung des ebenso wohlabgewogenen wie kurzen Textes (er besteht aus rund 400 Wörtern): Israels Vorgehen dürfe nicht dazu herangezogen werden, antisemitisches Handeln – und Sprechen – zu rechtfertigen. Die "recht verstandene Solidarität" erstrecke sich insbesondere auf alle Jüdinnen und Juden in Deutschland.

Habermas, der in die Wolle gefärbte Kantianer, stellt weiters fest: Israel habe auf die Einhegung seines militärischen Eingreifens zu achten. Es müsse, in Reaktion auf die barbarischen Hamas-Massaker vom 7. Oktober, die Verhältnismäßigkeit wahren, zivile Opfer vermeiden und den Krieg mit Aussicht auf einen künftigen Friedensschluss führen.

Doch eine solche Orientierung an allgemeinen Prinzipien wird keineswegs von allen für ausreichend erachtet. 107 Wissenschafterinnen und Wissenschafter unterzeichneten, in Reaktion auf den Weisen vom Starnberger See, jüngst einen offenen Brief im "Guardian". Habermas' Einlassung wird von den Briefstellern – unter ihnen der New Yorker Historiker Adam Tooze, der Poptheoretiker Diedrich Diederichsen und die Philosophin Beate Roessler – als unzureichend zurückgewiesen.

Pikanter Vorwurf

Die geforderte Solidarität würde von Habermas und Co eben nicht auf die Zivilisten in Gaza ausgedehnt. Man zeigt sich indigniert: "Die Sorge um die Menschenwürde" werde in der Erklärung nicht ausreichend auf jene Palästinenserinnen und Palästinenser bezogen, "denen Tod und Zerstörung bevorstehen". Sie werde auch nicht auf Muslime in Deutschland angewendet oder ausgeweitet, "die unter zunehmender Islamophobie leiden".

Der Vorwurf ist pikant. Ausgerechnet der Universalist Habermas solle nicht universalistisch genug argumentiert haben. Trotz Nennung dreier Leitprinzipien habe er auf die Einhaltung des Völkerrechts ("internationale Rechtsnormen, Solidarität, Menschenwürde") vergessen. Ist Habermas' Solidaritätsbegriff somit von vornherein defizitär? Ein nachdenklich stimmender Passus der "Guardian"-Erklärung lautet wie folgt: Nicht alle Unterzeichner glaubten, dass durch das israelische Vorgehen "die rechtlichen Standards für Völkermord erfüllt" seien. Dennoch seien sich alle einig, dass dies eine "Frage der berechtigten Debatte" sei.

Diese scheint ohnehin in Aufschaukelung begriffen. Der Frankfurter Philosoph Rainer Forst, ein Mitunterzeichner Habermas', bezichtigt die Kritiker nun, "an der Einseitigkeit zu leiden, die sie uns vorwerfen". Zu Wort gemeldet hat sich auch der Holocaust-Forscher Omer Bartov, der die Befürchtung hegt, ein weiteres Vorgehen Israels könne durchaus in einen "Genozid" münden.

Gefährliche Verzerrung

Sein offener Brief ist in der renommierten Zeitschrift "New York Review of Books" erschienen. Bartov – und mit ihm Christopher Browning oder Jane Caplan – weist jede Bezugnahme auf den Holocaust vehement zurück. Sie könnten die Gefühle in jüdischen Gemeinden gut verstehen, die mit Blick auf den 7. Oktober auch an den Holocaust dächten. Doch in Hinblick auf den Antisemitismus, dem jüdische Menschen heute ausgesetzt sind, entstehe so eine gefährliche Verzerrung.

Tatsächlich verlaufen die Bruchlinien in der Nahostdebatte kreuz und quer. Deutsche Sensibilität – geschärft durch die klar deklarierte Staatspolitik der Berliner Regierung – prallt auf die propalästinensische Haltung angelsächsischer Linker.

Unterdessen hat ein Wettlauf der Universalisten begonnen. Wer darf von sich behaupten, er sehe auf beiden Augen, dem israelischen wie dem palästinensischen, gleich scharf? Die Erfahrungen, die die gelehrte Welt aus Anlass von Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine gesammelt hat, scheinen auf Palästina wenig anwendbar. Es sei denn, man heißt Jürgen Habermas. Dem betagten Philosophen wurde bereits sein Eintreten für "rechtzeitige Verhandlungen" im Ukrainekrieg von vielen gründlich übelgenommen. (Ronald Pohl, 27.11.2023)