TikTok-Videoauf einem Smartphone-Display.
Viel Sludge-Content findet auf Tiktok statt, weshalb vorrangig junge Menschen damit in Berührung kommen.
Foto: Anna Haubiz

Als hätte die Social-Media-Plattform Tiktok nicht schon genug Suchtpotenzial, gibt es neuerdings Inhalte, die es für viele noch schwerer machen, das Handy wegzulegen. Sogenannter Sludge-Content (zu Deutsch etwa "zusammengemanschter Inhalt") zeigt mehrere Videos nebeneinander, die inhaltlich nichts miteinander zu tun haben. Neben einem Clip von der Serie "Family Guy" springt dann beispielsweise ein Charakter des Handy-Spiels "Subway Surfers" über U-Bahnen, während Sand mit einem Holzstock zerdrückt wird. Auf dem Bildschirm passiert so viel, dass die User daran hängenbleiben. Diese Art der Videos gibt es tausendfach, auch mit fünf oder mehr Splitscreens. Doch woher kommt die Faszination?

Viele können den Reiz an den meist inhaltslosen Videokollagen nicht nachvollziehen.
@GBBranstetter auf X

Sludge-Content scheint Eskapismus in seiner pursten Form zu sein. Doch ist er die Antwort auf die angeblich immer kürzer werdende Aufmerksamkeitsspanne der Generation Z? Gerne wird behauptet, diese betrage nur mehr acht Sekunden. Handfeste wissenschaftliche Belege dazu gibt es jedoch keine. "Wir sollten vorsichtig damit sein, davon auszugehen, dass sich die Aufmerksamkeitsspanne der Gen Z tatsächlich reduziert hat. Es gibt hierzu bisher noch keine mir bekannte Studie, die dies aufgezeigt hätte", meint Tobias Dienlin, der sich unter anderem mit Medienpsychologie an der Universität Wien beschäftigt.

Laut zahlreichen Studien können Menschen sich heute sogar besser konzentrieren als noch vor 30 Jahren. Für viele sei Überstimulation ein hilfreiches Tool, um aufmerksam zu bleiben. "Menschen bevorzugen unterschiedliche Stimulationsniveaus. Manche benötigen komplette Stille, andere können gerade in Cafés besser arbeiten. Medien komplexer zu gestalten kann also für manche zur besseren Konzentration führen," erklärt Dienlin. Sludge-Content kann also für viele eine Konzentrationshilfe sein. Der gezeigte Inhalt ist dabei zweitrangig.

Comedy-Creators thematisieren das Vorurteil der kurzen Aufmerksamkeitsspanne auf humorvolle Weise.
@kyletsomething auf TikTok

Suchtpotenzial

Doch neben erhöhter Konzentration kann Sludge-Content auch negative Aspekte haben. Franz Eidenbenz, Fachpsychologe und Psychotherapeut, erkennt darin eine Reizüberflutung mit Suchtpotenzial. Social Media arbeite mit Belohnungsmechanismen, die durch diese Inhaltsformate noch verstärkt werden könnten. Die meist jungen User werden dadurch in einen leicht "bewusstseinsveränderten Zustand" gebracht, erklärt der Experte. In diesem Zustand lassen sie Informationen auf sich einprasseln, ohne diese wirklich aufzunehmen.

Die Generation Z sei daran gewohnt, sich weniger gezielt auf einzelne Inhalte zu fokussieren, sondern viele Informationen gleichzeitig zu beachten. Das könnte eine Erklärung dafür sein, warum die scheinbar zufällig zusammengewürfelten Videoschnipsel gerade auf Tiktok so beliebt sind. Bei medienaffinen Nutzenden kann das zudem ein Element sein, das zur Erhöhung der Abhängigkeit im Rahmen einer Social-Media-Gebrauchsstörung führt, sagt Eidenbenz.

Sludge-Content in der echten Welt

Egal ob man die Videos ironisch oder ernsthaft konsumiert, Sludge-Content hat sich längst zu einem Meme entwickelt. Einige Lehrerinnen und Lehrer, die den Witz verstanden haben, lassen während ihres Unterrichts "Subway Surfers" laufen und posten davon Tiktoks. Beliebte Comedy-Sketches zeigen Personen bei Dates oder ärztlichen Gesprächen, die sich die Aufmerksamkeit ihres Gegenübers ebenfalls mit "Subway Surfers" zurückholen. Sogar die britische Indie-Rock-Band The 1975 spielt mit dem Social-Media-Phänomen. Bei einem Konzert in Baltimore ließ Leadsänger Matty Healy unlängst mehrere Sludge-Videos nebeneinander laufen.

The 1975 nutzt Sludge-Content als zusätzlichen Unterhaltungsfaktor bei einem Konzert in den USA.
@kalimesser auf TikTok

Das Phänomen ist noch sehr neu und wissenschaftlich nicht ausreichend untersucht. Sludge-Content scheint aber die Übertreibung einer Entwicklung zu sein, die es schon länger gibt. Beispielsweise tauchte der Begriff "Second Screen" schon im Jahr 2010 auf und beschreibt die Nutzung eines zweiten Bildschirms während des Fernsehens. Ist Fernsehen und gleichzeitig am Handy scrollen schlussendlich nicht genauso eine Form von Sludge-Content? Die steigende Popularität des Formats zeigt zumindest eines: Unser Medienkonsum bewegt sich immer mehr in Richtung Multitasking und Überstimulation. (Anna Haubiz, 29.11.2023)